Urban Fantasy – nie ohne Recherche

Recherche ist unabdingbar, auch im Bereich Fantasy, wenn das Genre zur Urban Fantasy zählt. Urban Fantasy verwendet Elemente des aktuellen Lebens (Urban) und nur im Teil Fantasy sind Autoren frei in ihrer schöpferischen Tätigkeit. Was für Fehler auftauchen, wenn die Recherche sträflich vernachlässigt wird, zeigt nachfolgender Text. Er wurde bei einem Zuschussverlag abgedruckt, d.h. die Autorin hat viel Geld (umsonst!) für den Druck ausgegeben. Hier gilt wieder mein altes Mantra: Es hätte sinnvollere Verwendungsmöglichkeiten für die Euros gegeben.

Der Klappentext bezeichnet das Werk als Fantasy. Urban Fantasy ist das Werk deshalb, weil es in 2010 im damals aktuellen London spielt. Die Handlung ist recht kurz erzählt: Ein Geschwisterpaar kommt aus einem Londoner Waisenhaus zu einem Typ mit Geheimnissen und so nimmt der Plot Fahrt auf. Falsch: So soll angeblich der Plot Fahrt aufnehmen. In Wahrheit steht er im Stau und der Motor röchelt nur noch. Die Ursache liegt in mangelnder Recherche und natürlich vermeidbaren Fehlern.

Zitatbeginn:

Das Jahr 2010: Es regnete in Strömen. Der Londoner Wetterbericht meldete Gewitter für die ganze Woche. Im Zentrum der großen Stadt stand das Waisenhaus, in dem C und seine Zwillingsschwester P lebten, seit sie vier Jahre alt waren. Es war ein großes, mehrstöckiges, in bunten Farben gestrichenes Gebäude mit einem runden, mintgrünen Kuppeldach.

[53 Worte, die normalerweise einen ersten Einblick in:  a) das Können der Autorin und b) einen Einstieg in die Handlung geben sollten. In beiden Fällen versagt die Autorin. Sie gibt die Jahreszahl der Handlung bekannt, nennt das in London häufige Regenwetter und beschreibt langweilig ein Waisenhaus.

Wie geht z.B. die erfolgreiche Autorin Mary Pearson in ihrem Buch „Der Kuss der Lüge“ vor?

Zitatanfang: Heute war der Tag, an dem tausend Träume sterben mussten und ein einziger geboren wurde. Der Wind wusste es. Es war der erste Juni, aber kalte Böen verbissen sich so heftig wie im tiefsten Winter in die Festung oben auf am Hügel. Zitatende.

Frau Pearson erzeugt in 42 Worten wesentlich mehr Stimmung als der obige Beginn mit 53 Worten. Die 42 Worte der Autorin vermitteln eine düstere Stimmung und geben einen Einblick in das Wesen der Handlung. Es geht um einschneidende Veränderungen im Leben der Romanfiguren und um einen Verlust. Die Naturgewalten unterstützen eine gewisse Melancholie durch eiskalte Winde, die sich in eine Festung verbeißen. Man kann als Leser unschwer erraten, dass die Hauptfigur in dieser Festung lebt. Offensichtlich lebte sie bisher behütet darin und nun stehen einschneidende Veränderungen bevor. Das vermittelt Vorfreude auf den Rest des Romans.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind VerlagslektorIn, haben nur 10 Minuten bis zum nächsten Termin, sollen aber vorher noch unbedingt den Berg Manuskripte auf dem Schreibtisch nach Brauchbarem untersuchen. Deshalb lesen Sie jedes Manuskript nur an. Wie würden Sie in diesem Fall entscheiden? Welches Manuskript kommt auf den Stapel „Weiterlesen“ und welches wandert Richtung Mülleimer?

Falls jemand nicht das Manuskript von Frau Pearson auf den „Weiterlesen“-Stapel legt, bitte ich um eine Begründung. Die würde mich stark interessieren.]

P hatte lange rote Haare und blaue Augen. Cs Haare waren kastanienbraun und stachelig. Auch seine Augenfarbe war blau. Kommende Woche würde ihr zehnter Geburtstag sein und sie hatten noch immer kein neues Zuhause gefunden. Sie wussten nicht, wer ihre Eltern waren. Trotzdem konnten sie sich an einige Dinge erinnern: P war sich ganz sicher, dass ihre Mutter, wenn sie morgens die Wäsche gemacht hatte, eine Musik, den Beatles nicht unähnlich, gehört hatte. C konnte sich daran überhaupt nicht erinnern, dafür wusste er, dass ihr Vater jeden Morgen das gleiche Apfelmüsli gegessen hatte. C hatte auch nie vergessen, dass der Hersteller des Müslis eine Firma gewesen war, die „Start your days with Apple“-AG hieß.

[114 Worte. Die Beschreibung der Protagonisten ähnelt dem sogenannten „Polizeibericht.“ Bei diesen Personenbeschreibungen kann man meistens problemlos die Überschrift „Gesucht! 1.000 Euro Belohnung!“ hinzusetzen. Außerdem hat der Leser solche Beschreibungen spätestens eine Seite später wieder vergessen. Anstatt beispielsweise detailliert zu erzählen, dass jemand ein bestimmtes Aussehen besitzt, kann man die Wirkung der Person auf die Umwelt beschreiben. Ein bekannter Krimiautor beschreibt beispielsweise das erste Treffen einer Romanfigur mit einer Frau so: „Als ich X das erste Mal sah, hielt ich sie für eine Frau, die sogar ihre Strümpfe bügelt.“ Ein fröhliches Mädchen könnte z.B. so dargestellt werden: „Y könnte sogar eine Trauerfeier in eine Silvesterparty verwandeln.“

Die restliche Beschreibung der Erinnerungen der Kinder ist langweilig zu lesen. Die Langeweile setzt sich die über die ganzen 114 Worte fort.]

C saß vor dem Fenster und beobachtete den Regenschauer. Der Regen war so stark, dass sogar die Fenster einen weinenden Eindruck machten. Es war Sonntagabend. Unten am Ausgang des Waisenhauses sah C ein junges Ehepaar mit einem frisch adoptierten Jungen zu ihrem Wagen gehen. Das war natürlich nicht das erste Mal, dass er ein solches Traumende beobachten musste, und es war auch nicht das erste Mal, dass er sich dabei so allein fühlte.

In diesem Moment kam P zur Tür herein und musterte ihren Bruder mit besorgter Miene. „Was hast du?“, fragte sie, während sie sich ihre noch vom Duschen nassen Haare trocknete.

„Ich habe gar nichts“ sagte C, der inzwischen gelernt hatte, seine Tränen zu unterdrücken. Er wusste, dass sich P mindestens genauso sehr wie er eine neue Familie wünschte und er wollte sie nicht daran erinnern, dass wieder ein anderes Kind ausgewählt worden war und sie nach wie vor nur sich als Familie hatten. Es gab Tage, da dachte C, er würde das Waisenhaus nie verlassen, aber P wollte die Hoffnung nicht aufgeben. C bewunderte diese Stärke. Sie war fest überzeugt, dass sie eine Familie finden würden. Das hatte sie sich seit fünf Jahren zu jedem Weihnachten gewünscht. Auch dieses Jahr war es ihr größter Wunsch gewesen. P sah ihn lange an, dann zuckte sie mit den Schultern und trocknete ihre Haare weiter. Danach ging sie zurück ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.

[237 Worte. Sie verraten nur wenig. Das Geschwisterpaar wünscht sich eine Adoption. Verständlich, aber wo ist das zentrale Problem, das die Handlung vorwärts bringt? Woran erkennt ein Leser nach nunmehr 53+114+237=404 Worten, dass ihn ein spannender Roman erwartet? Gibt die Autorin versteckte Hinweise? Studieren Sie nochmals den ersten Satz von Frau Pearson: „Heute war der Tag, an dem tausend Träume sterben mussten und ein einziger geboren wurde.“ Fragt sich der Leser nicht dauernd, welche Veränderung die Protagonistin erwartet? Tausend Träume sterben und nur ein einziger neuer kommt? Alleine diese Frage weckt die Leselust. Überspringen wir ein paar langweilige Absätze in dieser Story und tasten wir uns zu einem massiven Fehler vor:]

„Hört mir doch bitte kurz zu!“, hörte C Miss F durch das Murmeln der Kinder rufen. Prompt verstummten alle auf Kommando. „Wie ihr wisst, habe ich wieder ein paar nette Leute eingeladen, die einigen von euch ein neues Zuhause bieten wollen“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.

Das ist ein böses Eigentor in zweifacher Hinsicht. Erstens sind Dialoge, die mit „Wie du weißt“ beginnen, solche, die sich nur an den Leser richten. In englischen Schreibratgebern wird es der „As you know, Bob“-Fehler genannt und meistens so veräppelt: „Wie du weißt, Bob, hätten die bösen Außerirdischen uns vor drei Jahren beinahe besiegt und deshalb sitzen wir hier in dieser Trümmerlandschaft und müssen hart für den Wiederaufbau schuften.“

Zweitens vermittelt die Autorin den Eindruck, dass Adoptionen so stattfinden, dass Leute in ein Waisenhaus wie in einen Supermarkt gehen, dort ausgestellte Kinder aussuchen und mitnehmen. Die Waisenhausleiterin Miss F lädt dauernd Leute zu Besichtigungen der Kinder ein. Einen Roman so aufzubauen zeugt von mangelnder Recherche (auch in Britannien sind Adoptionen mit viel Bürokratie verbunden und Behörden überprüfen Interessenten vorher. Adoptionswillige melden sich bei der Behörde, nicht umgekehrt) oder von sehr großer Naivität. Beides führt bei normalen Lektoren (die nicht für Zuschussverlage arbeiten) nur zu einem Urteil: Mülleimer.

Naivität oder Unwissen?

Ich vermute mal, dass bei der Autorin die Naivität eine große Rolle spielte. Das Bild einer älteren, großmütterlichen Frau, die ganz alleine ein Waisenhaus leitet, dauernd irgendwelche Leute anspricht, ob sie nicht ein paar Kinder adoptieren wollen, ist das Klischee eines Märchens. Die Leiterin wird noch als Miss F bezeichnet, was impliziert, dass sie nie heiratete, sonst wäre sie eine Mrs. F. Also ist sie eine Art großmütterliche alte Jungfer. Klischee hoch drei! Außerdem zeugt es von absolut Null Recherche über die Verhältnisse in britischen Waisenhäusern oder des britischen Adoptionssystems.

Autorinnen, die ihre Manuskripte in ordentlichen Verlagen unterbringen, gehen anders vor. Sophie Kinsella soll mit ihrem Buch „Göttin in Gummistiefeln“ als Beispiel dienen. Darin macht eine junge Rechtsanwältin einen schweren Fehler und ist davon so mitgenommen, dass sie blind aufs Land fährt. Dort landet sie aufgrund einer Verwechslung als Haushälterin in einer Villa. Leider kann die Protagonistin überhaupt nicht kochen und muss es mühsam lernen. Frau Kinsella beschreibt in ihrer Danksagung auf der letzten Buchseite, dass sie für die Gestaltung des Plots mit Anwälten redete, viele Koch- und Backbücher las (die Rezepte auch nachkochte) und mit erfahrenen Köchinnen sprach. Warum tat sie das? Damit die Ereignisse im Roman so realistisch wie möglich geschrieben sind. Das beeindruckt einen Verlag.

Möglichkeiten der Verbesserung

Wie hätte man den Fantasy-Roman spannend gestalten können? Pauschal gesagt mit dem Beginn an der Schwelle der Veränderung, am zentralen Wendepunkt im Leben der Protagonisten. Das Geschwisterpaar ist adoptiert und kommt in das neue Zuhause. Es ist der erste Tag und gleich stoßen sie auf Merkwürdigkeiten. Irgendwas ist anders als erwartet, die neue Familie eigenartig. Für den Leser müssen Fragen auftauchen, die ihn zum Weiterlesen animieren. Ein altes, düsteres Gebäude vielleicht, mit verbotenen Zimmern oder seltsamen Geräuschen zu seltsamen Tageszeiten, über die niemand reden will. Die ganze Vorgeschichte mit dem Waisenhaus kann man hingegen in drei Nebensätzen abhandeln. Sie ist unwichtig, da in Urban-Fantasy die Fantasy und deren Wirkung auf die Protagonisten im Mittelpunkt steht. Die Adoption fand bereits statt (so umgeht man das Studieren einschlägiger britischer Vorschriften für die Recherche) und die Romanfiguren sind mit dem Ergebnis konfrontiert. Gut wäre allerdings eine Vorab-Recherche, ob der/die Hauseigentümer nach britischem Recht überhaupt eine Adoptionschance hätten (z.B. aufgrund ihres Berufs, der finanziellen Verhältnisse etc.). Auch bei Urban-Fantasy muss die Realität im Nicht-Fantasy-Teil des Romans beachtet werden. Wie erreicht eine Autorin das: Recherche, Recherche und – bevor ich es vergesse – Recherche

 

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Bildquelle

  • Problem: hyena reality freedigitalphotos.net

6 Gedanken zu „Urban Fantasy – nie ohne Recherche“

  1. Danke für deine Antwort, ich freue mich sehr darüber.

    Mein Kommentar bezieht sich auf das Beispiel der „Autorin“, um das Missverständnis aufzuklären.

    Deine Kolumne (oder wie immer du sie selbst nennst), lese ich natürlich sehr gerne, weil sie mir schon oft weitergeholfen hat.

    Herzliche Grüße

    Andrea

  2. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel die erste Buchseite eines Romans ausmacht! Deswegen habe ich jetzt Mal die ersten 74 Wörter meines FFs hier reingeschickt, damit du mir vielleicht sagen kannst, ob das spannend genug ist. Normalerweise schreibe ich keine FFs mehr, aber aus sentimentalen Gründen überarbeite ich meine alte WaCa Fanfiction.
    Ich kann nicht ganz bennen, was mir bei dem Anfang fehlt.

    Mit ungutem Gefühl schlich Mondpfote** hinter ihrem Mentor Astsprung** her. Sorgsam setzte sie Pfote vor Pfote, damit sie ja nicht fiel. Keine *Schwanzlänge neben ihr zerschnitt eine Schlucht, breit wie zwei *Donnerwege, die Landschaft. Die Verbotene Schlucht. Mondpfotes Gedanken, wie nah sie dem Abgrund war, jagte ihr ein Schaudern durch den ganzen Körper. Niemand, der dort fiel, kam wieder. Hier entlang zu laufen – eine absolut tödliche Angelegenheit. Man ließ ihr leider keine Wahl.

    *Fandom-Begriffe
    **Die Name sind in dem Orginalbuch immer so aufgebaut mit einer Vor- und Nachsilbe

    1. Hallo Emmerilla
      mal sehen, was ich für dich tun kann.
      Als erstes würde ich einen Satz tauschen, damit Ursache und Wirkung klar sind. Die sorgsame Pfote kommt demzufolge hinter die Erläuterung über die Schlucht, deren Name ich gleich im Satz eingefügt habe. Damit sparst du dir den Satz über die verbotene Schlucht. Die Gedanken von Mondpfote habe ich gleichfalls gestrichen. Im Sinne von Show don´t tell wird der Leser mit den nachfolgenden Sätzen „Niemand, der dort fiel …“ eigentlich gut in Mondpfotes Gedankenwelt eingeführt und die Anspannung, unter der Mondpfote steht, wird offensichtlich. Das Wort „fiel“ taucht zweimal hintereinander auf und sollte einmal durch ein Synonym ersetzt werden.
      Damit sind aus den 74 Worten nun 56 geworden und die Spannung ist zumindest meiner Ansicht nach höher.

      Mit ungutem Gefühl schlich Mondpfote** hinter ihrem Mentor Astsprung** her. Keine *Schwanzlänge neben ihr zerschnitt die Verbotene Schlucht, breit wie zwei *Donnerwege, die Landschaft. Sorgsam setzte sie Pfote vor Pfote, damit sie ja nicht fiel. Niemand, der dort fiel (Wortdopplung! Synonym für „fiel“ suchen), kam wieder. Hier entlang zu laufen – eine absolut tödliche Angelegenheit. Man ließ ihr leider keine Wahl

      Wie wäre es mit einem weiteren Eindampfen? Spielen wir doch mal mit dem Grundgedanken des Absatzes: Dazu gezwungen zu sein, neben einem tödlichen Abhang zu laufen.
      Am Rand des Abhangs der Verbotenen Schlucht zu laufen, war nicht nur lebensgefährlich, sondern auch eine verdammt idiotische Idee. Ängstlich schlich Mondpfote hinter ihrem Mentor Astsprung her. Sollte ein Mentor sich nicht um seinen Schützling kümmern? Stattdessen bestand er darauf, nicht mal eine Schwanzlänge neben dem tödlichen Abgrund zu gehen.

      Das wären 50 Worte und der Stress, unter dem Mondpfote steht, wird meiner Meinung nach deutlicher. Man könnte bestimmt noch mehr „Geiz“ bei den Worten entwickeln ohne dass der Lesegenuss bzw. die Spannung leidet. Einfach mal probieren.

    1. Ich habe zu danken für das Lob. Kommentare helfen mir sehr, da ich so eine Rückmeldung darüber bekomme, was meinen Lesern gefällt. Nochmals besten Dank, Andrea. Vorschläge nehme ich gerne an.
      Bernard

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