Für Autoren ist es wichtig, Personen zu erschaffen, die real existieren könnten. Dreidimensionale Romanfiguren sind das Ziel. Gerade das im letzten Beitrag vorgestellte Beispiel zeigt deutlich, wie man ins Schleudern kommen kann, wenn man diese einfache Regel nicht befolgt. Nebenbei bemerkt habe ich einen kleinen Schreibwettbewerb laufen, der erst am 14.12.2014 endet. Es gibt einen attraktiven Preis! Details der Kriterien findet man am Ende des Beitrages der vorigen Woche. Mitmachen lohnt sich.
Heute möchte ich mich mit der Erschaffung von real wirkenden Charakteren beschäftigen. Als Beispiel verwende ich das bekannte erste Buch „Hunger Games“ von Suzanne Collins, in der deutschen Version „Tribute von Panem“ genannt. Ich zeige auf, wie die Autorin arbeitete, wie Katniss Everdeen ihre Eigenschaften bekam und eine dreidimensionale Romanfigur wurde.
Natürlich weiß ich nicht genau, wie die Autorin vorgegangen ist, der nachfolgende Text ist eine Vermutung. Es ist aber vergleichbar mit dem Bau eines Hauses. Der Architekt kann Details verändern, die Grundstruktur (Keller, Erdgeschoss, evtl. weitere Stockwerke und zum Schluss das Dach) ähnelt sich immer. Einem fachkundigen Besucher ist es dadurch möglich, Rückschlüsse auf die Vorgehensweise der Erbauer zu ziehen.
Der Anfang der Entwicklung einer dreidimensionalen Romanfigur war wahrscheinlich eine knappe Zusammenfassung der geplanten Rahmenhandlung, z.B. „In einer dystopischen Zukunft muss ein junges Mädchen mit anderen Kindern in einer Arena um Leben und Tod kämpfen.“
Damit steht die Hauptperson fest. Einen Namen braucht sie in diesem Stadium noch nicht, der Einfachheit halber können wir sie aber schon jetzt Katniss Everdeen nennen. Als nächsten Punkt der Erschaffung einer dreidimensionalen Romanfigur benötigen wir eine Auflistung der Fähigkeiten, die Katniss in der Arena zum Überleben braucht. Nahkampf wäre schön, aber wo soll ein junges Mädchen das glaubhaft für den Leser gelernt haben? Also streichen wir diese Fähigkeit von der Liste. Stattdessen fügen wir Bogenschießen, Fallenstellen, Pflanzen- und Heilkunde hinzu.
Das bringt uns automatisch zum nächsten Punkt eines realen Charakters. Er besitzt eine Vergangenheit. Das gesammelte Wissen von Katniss ist das Produkt ihrer Vergangenheit und ihrer gemachten Erfahrungen. Wo könnten die glaubhaft herkommen? Sie lebt in einem unterdrückten Viertel in ärmlichen Verhältnissen und eine mächtige Zentralregierung fordert Tribute für die Hungerspiele ein. Die Armut von Menschen kann diverse Ausprägungen annehmen, ein sehr alter und für den Leser prägnanter Effekt ist der Hunger. Wer arm ist, hat wenig Zugang zu Nahrungsquellen. Da Not erfinderisch macht, könnte Katniss durch Jagen ihrer Familie geholfen haben. Mit dieser Vergangenheit schlägt man mehrere Fliegen mit einer Klappe, da sich die anderen Fähigkeiten, wie Fallenstellen, Pflanzen- und Heilkunde davon problemlos ableiten lassen.
Das innere Wesen
Etwas fehlt noch bei der dreidimensionalen Romanfigur, es ist das innere Wesen. Der Leser braucht eine Figur, mit der er sich identifizieren kann. Einerseits muss Katniss in der Arena überleben können, andererseits darf sie keine kaltherzige Amazone sein, die Gegner ohne mit der Wimper zu zucken tötet. Sie braucht Schwächen, jeder Mensch hat Schwächen. Angst vor Versagen oder Selbstzweifel sind Schwächen. Also bekommt sie Katniss. Das macht ihre Figur realistisch.
Sympathie für die Figur wecken
Da die Rahmenhandlung die Auswahl der Tribute für die Hungerspiele durch das Losverfahren vorsieht, könnte man Katniss einfach auslosen. Das verursacht aber nicht die gewünschte Spannung, die Identifizierung mit der Romanfigur. Man braucht im ersten Teil einen Angelhaken für das Publikum, einen Moment des starken Mitfühlens. Die freiwillige Meldung für die Spiele wäre so ein Impuls, der die Leser aufwühlt.
Für wen würde sich jemand freiwillig als Ersatz anbieten, wenn die Folge der eigene Tod sein könnte? Altruismus wäre eine Möglichkeit, doch so ein Charakter vermittelt nicht genügend Spannung. Liebe ist ein starker Impuls. Man könnte Katniss sich für einen Liebhaber freiwillig melden lassen. Wenn der Liebhaber aber außerhalb der Arena ist, könnten dem Roman wichtige Elemente verloren gehen. Besser wäre eine Konstruktion mit einer Liebe innerhalb der Arena. Also streichen wir diese Idee.
Welche Art von Liebe gibt es noch? Beispielsweise die zu Geschwistern. Katniss könnte eine jüngere Schwester haben. Diese wird ausgelost, zum Entsetzen von Katniss, weshalb sie sich sofort freiwillig meldet.
Warum sorgt sie sich so sehr um die jüngere Schwester? Es könnte in der Vergangenheit begründet liegen. Man braucht ein Element, das die freiwillige Meldung noch glaubhafter macht. Die familiären Zustände könnten die Ursache sein. Katniss müsste in der Vergangenheit dazu gezwungen worden sein, sich intensiv um ihre Familie zu kümmern. Der Tod des bisherigen Ernährers, des Familienvaters, eignet sich dazu. Also lassen wir Katniss einen überraschend verstorbenen Vater haben. Dieses Ereignis warf sie aus der Bahn, brachte sie dazu, sich stark mit Jagd, Pflanzen- und Heilkunde zu beschäftigen. Sie übernahm Aufgaben ihres toten Vaters, hielt die Familie zusammen. Gleichzeitig gab ihr das Stärke. Die kann sie in der Arena gut brauchen, was wieder elegant ein Problem löst. Wir geben der Zentralregierung noch die Mitschuld am Tod des Vaters, was ein Gefühl des Hasses auf die bestehende Ordnung verursacht. Na, das sieht doch schon ganz gut aus. Aber nur für den Anfang! Der Charakter ist noch nicht fertig, es fehlt etwas.
Den Leser bei der Stange halten
In der Arena kämpft sie um das eigene Leben, ein starkes Motiv. Doch reicht das aus, um den Leser bei der Stange zu halten? Was reizt die Leser noch? Liebe sollte als Salz in der Suppe eines Romans immer dabei sein. Vielleicht eine Dreiecksbeziehung? Katniss Liebe zu einem jungen Mann außerhalb der Arena und dazu noch jemand in der Arena, der etwas für sie empfindet? Keine schlechte Idee. Das erzeugt Verwicklungen, Stoff für Nebenhandlungen und fügt glaubhafte Elemente des Alltagslebens in den Roman ein. Es vermeidet einen zu linearen Verlauf der Handlung, zu durchsichtige Entwicklungen.
Ein junger Mann, den Katniss sympathisch findet, ist schnell erschaffen. Diese Beziehung ist ein Produkt ihrer Vergangenheit und am leichtesten erklärbar, wenn der Typ die gleichen Interessen wie Katniss hat. Jagd ist ihr Hobby, dabei lernt sie ihren Schwarm kennen. Okay, der Punkt ist damit abgehakt. Viel Zeit braucht man für diese Romanfigur nicht zu investieren. Er taucht am Anfang auf und wird später im Buch 1 nicht mehr benötigt.
Schwer wird es mit dem zweiten jungen Mann. Er muss seit längerem etwas für Katniss empfinden, ist vielleicht zu verschüchtert, um sie anzusprechen. Andererseits muss Katniss ihn auch gut genug kennen, damit sie ebenfalls so etwas wie Fürsorge für ihn entwickelt. Wie könnte man eine derart komplexe Vergangenheit konstruieren? Schwierig, schwierig. Helfen könnte das einschneidende Ereignis, der Tod des Vaters. Ohne den Verdienst des Familienvaters leiden aller unter noch größerer Not und Hunger. Sie könnten in der Gefahr schweben, zu verhungern. Der zweite junge Mann hilft Katniss selbstlos, da er sowieso schon lange in sie verliebt ist. Dadurch ist ein gemeinsames Erlebnis vorhanden, auf dem man weitere Handlungselemente aufbauen kann.
Damit sind wir eigentlich mit der Erschaffung von Katniss fertig. Sie muss nur noch eigene Gedanken und Meinungen zu den nachfolgenden Ereignissen haben, gewürzt mit Selbstzweifeln, Ängsten und psychischen Problemen. Am Ende der Spiele muss sie ein anderer Mensch sein als vorher, ihr Charakter muss sich in irgendeiner Art und Weise verändert haben. Somit haben wir einen vollendeten Charakter-Bogen und eine dreidimensionale Romanfigur.
Fazit
Habe ich jemandem Illusionen geraubt? Ich hoffe nicht. Gute Romane – ich zähle „Tribute von Panem“ ausdrücklich dazu – haben alle eine Eigenschaft:
Sie sind geplant!
Vom Anfang bis zum Ende, in unterschiedlicher Genauigkeit. Suzanne Collins hat sich nach der Erschaffung von Katniss vermutlich Peeta gewidmet und dann noch ein paar der Randfiguren mit ein wenig Leben gefüllt (Haymitch, Effi usw.). Die nächste Hauptarbeit ist die Erstellung einer detaillierten Outline, des Szenenplans. Das kann Monate dauern. Es folgt die Erstfassung, das Probelesen, die Korrekturen und Überarbeitungen. Erst am Ende des langen Prozesses funkelt der Diamant. Fertig geschliffen, einfach aussehend und doch so komplex.
Gerne zieht man den Hut vor dem Ergebnis.
byBildquelle
- junge Geschäftsfrau motiviert sich selbst: fotogestoeber; fotolia.de