Frau mit Fernglas

Die Macht der Erzählperspektive

Woran denkt man beim Begriff Erzählperspektive? An die Art und Weise, wie man eine Geschichte erzählt? Ich-Erzähler? Allwissender Erzähler oder personale Perspektive? Vieles passt auf dieses Wort. Im englischen Sprachraum gibt es den schönen Begriff Point-of-View. Im Grunde ist es das Gleiche. Es geht um die Frage, wer die Story erzählt, mit wessen Augen die Leser das Geschehen betrachten.

Die Erzählperspektive ist ein sehr mächtiges Werkzeug in der Hand eines Autors. Richtig angewendet offenbart sie, wie eine Romanfigur die Welt um sich herum sieht und was sie dabei denkt. Jeder Mensch sieht die Realität in einer speziellen Art und Weise. Wenn 10 Personen ein Ereignis betrachten, haben diese etwa ebenso viele Ansichten darüber, gefärbt durch ihre persönlichen Erfahrungen. Die Sichtweise verrät viel über den Charakter einer Person.

Die gleiche Sache, zwei Meinungen

Nehmen wir an, dass es heftig schneit. Ein kleines Kind freut sich unbändig. So könnte man dessen Sichtweise beschreiben:

Groß und schwer fielen die Flocken herunter, bedeckten die Straße mit einem weißen Flaum, hübsch wie der Zuckerguss eines Geburtstagskuchens.

Ein alter Mann, der den Gehweg vor seinem Haus kehren muss, sieht die Sache ganz anders.

Erneut schneite es heftig. Bald würde der Besen nicht mehr ausreichen für das Wegräumen des verdammten Drecks.

So differenziert wie Menschen nehmen auch Romanfiguren ihre Umgebung wahr. Nebenbei hilft dem Autor genau diese Tatsache, einen runden Charakter zu erschaffen und die leider viel zu oft anzutreffenden „Pappkameraden“ zu vermeiden. Darin, finde ich, zeigt sich die Macht, die in Point of View steckt.

Praktische Beispiele zur Erzählperspektive:

Nehmen wir folgende Szene an: Die zwei Frauen Thelma und Susanne befinden sich auf der Flucht vor einem gefährlichen Typ. Aus Zufall landen sie in dem entlegenen Haus von Astrid. Es befindet sich weit draußen, ist nur über einen Feldweg zu erreichen, hat kein Telefon und ist außerhalb des Empfangsbereichs von Handynetzen. Das soll die Kulisse sein.

Nebenbei bemerkt: Beachten Sie bitte, Ihren Protagonisten keine ähnlichen Namen zu geben oder solche, die mit dem gleichen Buchstaben anfangen. Denken Sie an die Probleme des Lesers, wenn Sie schreiben: Die zwei Frauen Gertrud und Gisela landen in dem Haus von Gerlinde. Das ist mindestens so schlimm wie: Molly und Sally landen im Haus von Holly.

Aber nun zum weiteren Verlauf der Handlung:

Die Frauen verbarrikadieren die Tür und hören entsetzt, wie jemand sich von außen am Schloss zu schaffen macht. Thelma entsichert die mitgeführte Pistole.

Es stehen für diese Szene also drei Point-of-View-Charaktere zur Verfügung. Wählen wir zuerst Thelma. Sie ist die entschlossenere von allen, eine Kämpferin.

So könnte Thelma die Situation wahrnehmen:

Thelma hörte das Kratzen am Türschloss, typisches Zeichen von Werkzeug. Der Typ da draußen gab also nicht auf. Wahrscheinlich witterte er leichte Beute. Thelma konnte seine Gedanken nachvollziehen. Ein einsames Haus, kein Handynetz. Man brauchte nur hinein. Ob er auch Kumpane dabei hatte? Im Grunde war es egal, überlegte Thelma. Sie würde es den Halunken so schwer wie möglich machen.

Routiniert griff sie zu der Pistole, zog den Schlitten nach hinten und legte den Sicherungshebel um.

Als sie zur Seite blickte, sah sie Astrid, die Hände in den Couchsessel gekrallt, das Gesicht weiß wie Schnee. Armes Ding. Keine Ahnung von der notwendigen Härte, die man haben musste, wenn es um das eigene Leben ging. Susanne hingegen starrte die Tür an, als ob sie sie hypnotisieren wollte. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Ob sie den Eindringling damit in die Flucht schlagen wollte? Lächerliche Idee!

„Susi!“, zischte Thelma deshalb und hob die Waffe. „Geh aus dem Weg. Ich brauche freies Schussfeld.“

Wie könnte diese Szene aus der Sicht von Susanne erzählt werden? Sie ist eher vorsichtig.

Susanne hörte das Kratzen am Türschloss. Benutzte er Werkzeug? Wollte der Typ, vor dem man sich gerade noch in das Haus retten konnte, tatsächlich eindringen? Susanne ballte die Fäuste. Das letzte Training im Selbstverteidigungskurs für Frauen lag bereits einige Zeit zurück. Sie versuchte sich an Details zu erinnern, starrte die Tür an. Neben ihr ertönte ein metallisches Klicken.

„Susi!“, hörte sie Thelma leise sagen. „Geh aus dem Weg. Ich brauche freies Schussfeld.“

Überrascht drehte sie sich um. Woher hatte Thelma die Pistole? Wollte sie etwa auf den Typ schießen?

Nun bleibt noch Astrid zurück. Sie ist ängstlich, verschüchtert, musste noch nie irgendeine gefährliche Situation ertragen.

So könnte sie die Szene sehen:

Astrid krallte die Finger in die Lederpolster des Sessels. Wie konnte das nur passieren? Die Gegend war doch so friedlich. Alles hatte damit begonnen, dass sie die beiden fremden Frauen in ihr Haus ließ. Sie seien auf der Flucht, hatten sie gesagt. Lächerlich! Bestimmt steckten sie in irgendeiner krummen Sache drin und nun wollten ihre Komplizen Rache. Es musste doch einen Ausweg geben! Sie war nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.

Ob man mit dem Fremden reden konnte, sobald er im Haus war? Ganz bestimmt, überlegte Astrid. Sie würde hoch und heilig schwören, nichts gesehen zu haben. Mit den beiden Frauen sollte der Typ verfahren, wie er wollte. Das ging sie nichts an.

„Susi“, zischte diese Thelma, die arrogantere von beiden. „Geh aus dem Weg. Ich brauche freies Schussfeld.“

War Thelma völlig verrückt geworden? Deutlich sah Astrid die Pistole in ihrer Hand. Sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich und beugte sich tief in den Sessel. Oh, Gott! Jetzt stand auch noch eine Schießerei bevor!

Wie könnte die Szene aussehen, wenn sie aus der Sicht von niemandem erzählt wird? Um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen: Sehr langweilig.

Es kratzte an der Tür, der Fremde machte sich am Schloss zu schaffen. Susanne ballte die Fäuste und starrte die Tür an. Thelma hingegen nahm die Pistole, die sie bei sich hatte. Sie zog den Schlitten nach hinten und entsicherte die Waffe.

„Susi“, zischte Thelma. „Geh aus dem Weg. Ich brauche freies Schussfeld.“

Astrid vergrub sich im Polstersessel. Ihr Gesicht bekam eine bleiche Farbe.

Diese Art der Betrachtung des Geschehens aus der Sicht eines neutralen Beobachters nimmt viel Spannung aus der Story. Man sieht die Handlungen der Figuren, doch erfährt man nichts über deren Gefühle. Auch bekommt man keine Vorstellung davon, wie es weitergehen könnte. Man erfährt viel über das „Was?“ aber nicht über das „Warum?“.

Warum irgendetwas passiert, ist zumeist die interessanteste Frage. Das weiß man erst dann, wenn man in die Gedanken einer Romanfigur eintaucht. Die inneren Gefühle, die – vielleicht falschen – Überzeugungen und Ideen der Personen im Roman machen das Salz in der Suppe einer Story aus.

Eine Romanfigur handelt immer aus einem Grund. Sie kann völlig auf dem Holzweg sein, vielleicht sogar verrückt. Aber niemals macht sie etwas, bloß weil es dem Autor gerade gefällt. Es muss aus dem Charakter der Romanfigur, ihren inneren Überzeugungen, resultieren.

Eine interessante Story mit tiefgründigen Figuren bietet „Gestrandet in der Zeit“. Erhältlich übrigens in allen ebook-Formaten in allen Stores.

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Bildquelle

  • vision: Frank Peters, Fotolia.de

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