Der Romanbeginn – Fehler vermeiden Teil 1

Der Romanbeginn ist der erste Kontakt zwischen Autor und Leser. Oft bleiben nur Sekunden, um einen Leser davon zu überzeugen, sich stärker dem Buch zu widmen. Was kann man tun, um den Kontakt zum Erfolg werden zu lassen? 

Obwohl eigentlich in fast jedem Schreibratgeber betont wird, wie wichtig der Romanbeginn ist, findet man leider zu oft ein negatives Beispiel. Deshalb möchte in zwei Teilen dieses Thema anhand konkreter Beispiele besprechen (Teil 2 folgt nächste Woche). Ich verwende wieder wie üblich anonymisierte Beispiele, denn es geht nur um den Text.

Es war ungefähr im Jahre […] nach Christi Geburt, als während des Winters ein alter Mann in seiner Holzhütte vor einem Feuer saß. Dieser […] Winter war einer der kältesten und stürmischsten seines bisherigen Lebens, zumindest schien es ihm so. Das Feuer brannte den ganzen Tag über, und er stand jede Nacht auf, um ausreichend Holz nachzulegen. Er hätte es lieber gehabt, wenn ihm dabei jemand geholfen hätte, doch abgesehen von seinem tierischen Gefährten, einem ebenso alten Wolf, den er mit eigenen Händen aufgezogen hatte, lebte er allein.

Die Hütte war nicht allzu groß, aber sie hatte bisher immer ausgereicht. Ein großer Wohnraum mit einem Holztisch, ein paar Stühlen sowie der mit kleinen Steinquadern ummauerten Koch- und Feuerstelle. Der Schlafplatz befand sich in einem kleineren Raum, den sie nachträglich in einem früheren Sommer angebaut hatten. Sieben Bäume hatten dafür gefällt werden müssen. Die Freunde des alten Mannes hatten ihm dabei geholfen. 

Er erinnerte sich gerne an diese Zeit zurück. Es war ein wunderbarer Sommer gewesen. Der Tisch war damals reichlich gedeckt gewesen. Es gab so viele Fische im Fjord, dass sie nicht einmal weit mit ihren Fischerbooten hinaussegeln mussten. Die Fische sprangen wie von allein in die Netze. Auch Rentiere und Hasen kamen bis an das Dorf heran. […]

Eines Morgens war er aufgestanden, um auf die Jagd zu gehen. Damals war er noch jung gewesen. Trotz seines Tatendrangs hatte er nur ein paar Meter in den Wald laufen müssen, da waren schon die ersten, aufgeschreckten Rentiere an ihm vorbeigesprungen. Er hatte einen Pfeil in die Sehne gelegt, den Bogen erhoben und getroffen. Er hatte das Tier mit bloßen Händen bis auf den großen Platz gezogen, um den die Hütten und Häuser angeordnet waren. Alle waren in dieser Zeit satt geworden.

Orson Scott Card sagt, dass ein Romanbeginn drei Fragen für den Leser beantworten muss:

  1. Wo bin ich?
  2. In wessen Haut stecke ich?
  3. Warum soll mich das alles interessieren?

Zerlegen wir das obige Beispiel nach diesem Schema. Die erste Frage dreht sich um Ort und Zeit der Handlung. Das wird genannt, wir sind in einem bestimmten Jahr nach Christi Geburt, es ist Winter und wir sitzen an einem Feuer.

Die zweite Frage dreht sich um den Erzähler (Point of View). Aus wessen Sicht wird die Romanhandlung erzählt? Offensichtlich geht es um einen alten Mann, der Erzähler scheint auktorial zu sein. Hier gibt es nichts auszusetzen.

Kommen wir zur dritten Aufgabe, die meiner Ansicht nach nicht erfüllt ist. Dieser Punkt ist der wichtigste, er hat  – leider – zu oft ein Nischendasein. Im englischen Sprachraum ist es der „Hook“, der Haken, mit dem ein Autor den Leser angelt, ihn zum Kauf des Buches verleitet.

Ich habe bewusst fast die gesamte erste Romanseite abgeschrieben, mehr würde auch kaum jemand im Buchladen oder im Internet lesen.  Was erfährt der Leser auf dieser ersten Seite? Es gibt einen alten Mann, er sitzt mitten im kalten Winter einsam am Feuer und denkt über die Vergangenheit nach. Früher hatte er Freunde, die ihm beim Hüttenbau halfen und es mussten sogar sieben Bäume gefällt werden für den Anbau mit Schlafplatz. Das ist natürlich eine unglaublich wichtige Information. Herzlichen Dank dafür.

Damals war der Sommer heiß, gab es genügend Wild im Wald und die Fische tummelten sich im Meer. Sie warteten förmlich darauf, endlich den Fischern ins Netz zu gehen. Damals war der alte Mann noch jung und erlegte ein großes Tier im Wald. Alle wurden satt. Aha!

Sorry, aber ein Detail wurde leider nicht erklärt:

Wieso sollte mich als Leser diese Story interessieren?

Ich hätte das Buch wieder auf den Stapel zurückgelegt, hätte ich es in einer Buchhandlung gefunden. Ein alter Mann, der an glücklichere Tage zurückdenkt. Der Romanbeginn liest sich genauso langweilig wie diese Kurzzusammenfassung der ersten Seite. Warum sollte ich das Buch lesen, wenn „Fantasy“ auf der Packung steht? Wurde auch nur irgendein Haken ausgelegt? Gibt es eine Vorahnung kommender Ereignisse, irgendetwas, das zumindest Neugierde weckt?

Ich habe nichts gefunden. Was ist Ihre Meinung über diesen Romanbeginn? Irgendetwas Interessantes für Sie dabei? Lesen Sie gerne Lebenserinnerungen alter Menschen? Dann wäre das Buch vielleicht etwas für Sie. Solche Bücher findet man aber nicht im Regal mit der Überschrift „Fantasy“.

Gibt es eine Möglichkeit, die Geschichte eines alten Mannes zu erzählen und dabei sogar im ersten Satz einen dicken Haken auszulegen, der den Leser fesselt, ihn zum Kauf des Buches verleitet? Existiert ein diesbezüglicher Romanbeginn?

Ich brauchte nicht lange suchen, um eine Geschichte über einen einsamen alten Mann zu finden. Was halten Sie von diesem ersten Satz:

Es war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen.

Das Zitat ist der Romanbeginn von: „Der alte Mann und das Meer“, geschrieben von Ernest Hemingway. Die drei Punkte von Orson Scott Card werden in nur einem Satz erfüllt. Wir sitzen in einem Fischerboot im Golfstrom. Wir stecken in der Haut eines alten Mannes. Der arme Kerl ist also schon seit vierundachtzig Tagen umsonst auf das Meer hinausgefahren und hat absolut nichts gefangen? Was für ein armer, alter Mann. Empfindet man nicht augenblicklich Mitleid mit ihm? Taucht der Gedanke auf, dass man gerne wüsste, wie es weiter geht mit diesem Fischer?

Falls Sie die beiden letzten Fragen mit „Ja“ beantworten, dann haben Sie angebissen. Hemingway ging geschickt vor beim Auslegen des Köders.

Fazit: Man muss dem Leser schon sehr früh einen Grund geben, weiterzulesen. Mehr davon nächste Woche bei einem weiteren Beispiel für einen langweiligen Romanbeginn

Facebooktwitterpinterestby feather

Bildquelle

  • ID-100314093_stuart_miles: Stuart Miles freedigitalphotos.net

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert