Um den berühmt-berüchtigten Haken auszulegen, der den Leser sofort fesselt, sollen Romane mit einer interessanten Szene anfangen. Bestenfalls beginnen sie in der Mitte einer Handlung. Einerseits schön, andererseits schlecht. Denn die Romanfiguren hatten eine Vorgeschichte, eine Summe von Ereignissen, die zu der Szene führten, mit der die Story beginnt. Wie soll man das dem Leser vermitteln?
Die üblichen Wege der Erzählung einer Vorgeschichte sind Prolog und Rückblende. Zu Prologen äußerte ich mich im Beitrag der letzten Woche. Heute geht es um ein interessantes, manchmal zu häufig benutztes Werkzeug – die Rückblende.
Ich las neulich in der Leseprobe eines Romans, der Rückblenden ziemlich häufig einsetzt. Hier ein verfremdeter Auszug:
X saß an seinem Schreibtisch und wie jeden Morgen wanderte sein Blick auf das silbern umrahmte Bild. Gestern war es genau ein Jahr her, dass seine Frau zu ihm kam und das Thema Scheidung ansprach. Drei Jahre waren es gewesen, in der sie eine glückliche Ehe geführt hatten. Dann – einfach so – die Scheidung. (es folgt ein weiterer Rückblick auf frühere gemeinsame Urlaubsplanungen)
X genoss die frühen Morgenstunden an seinem Arbeitsplatz, wenn noch keine Kollegen anwesend waren. Die Firma, in der er arbeitete, bestand seit einigen Jahren. Ihre Kunden gehörten einem erlesenen Kreis an und hatten hohe Ansprüche. Das Firmenbüro lag beschaulich bei Y, einem Vorort von A-Stadt. Vom Bürofenster aus hatte man einen schönen Ausblick auf bla bla, den X liebte. Heute war ein besonderer Tag, denn die Firma sollte einem Kunden helfen, ein wichtiges Produkt zu präsentieren. Der Kunde, die Z-Company, beschäftigte sich mit bla bla und plante deshalb dieses wichtige Ereignis penibel.
Es gibt bestimmt Leser, die mit dieser Sammlung von Rückblenden keine Probleme habe – ich schon. Rückblenden haben immer einen Nachteil – sie reißen den Leser aus der aktuellen Handlung heraus. Der Leser gerät aus dem Fluss. Natürlich hat eine Rückblende den Vorteil, vieles kurz und prägnant zu präsentieren. Andererseits wurde der Charakter X an dieser Stelle das erste Mal dem Leser vorgestellt, man erfährt seine Vorgeschichte. Die Rückblende an dem Platz – den ersten Seiten der Leseprobe – verhindert, dass der Leser gefangen und in die Ereignisse hineingezogen wird.
X leidet unter der Scheidung? Wen kümmert es? Seine Firma hat eine erlesene Kundschaft? Schön für sie, doch wer will das wissen? Z-Company penibler Kunde? So, so. Ja, solche Kunden soll es geben. Und? Was passiert sonst noch? Warum muss ich als Leser das alles wissen? Warum muss ich das genau an dieser Stelle erfahren?
Was wollen die Leser?
Hintergrundinformationen zu den Romanfiguren oder eine Handlung, die vorwärts geht? Leider beides und am Besten noch gleichzeitig nebeneinander. Das ist ein harter Brocken für den Autor.
Der Mix macht es aus. Es geht vordergründig darum, wessen Geschichte man erzählen will. Leser sind neugierig, sie wollen viel wissen. Doch in einem Roman geht es darum, nur Dinge zu präsentieren, die für die Handlung relevant sind.
Vorgeschichte in die Handlung einweben
Für die Präsentation einer Vorgeschichte existieren viele Wege. Ich wähle beispielsweise gerne den Dialog, etwas aufgepeppt mit einem kleinen Konflikt. Man könnte beispielsweise den Vorgesetzten von X ins Büro kommen lassen, der brüsk das Bild der geschiedenen Ehefrau umdreht und sich nach dem Stand der Präsentation für die Z-Company erkundigt. X, sofort im Verteidigungsmodus, könnte nun gegen das umgedrehte Bild protestieren, an den Jahrestag der Trennung erinnern. Chef, unduldsam wie immer, verweist auf die Wichtigkeit der Z-Company und die heutige Planung. Dann geht Chef aus dem Büro und X flucht leise über dieses elende A…loch! Damit hat man die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft, fühlt Sympathie mit dem armen X, dessen böser Chef nicht einmal am Jahrestag der Scheidung Rücksicht auf ihn nimmt.
Wer mag Unterbrechungen eines Kinofilms?
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen gerade in einem spannenden Kinofilm. Je nach Ihrem Geschmack ist es eine Beziehungsstory oder ein Agententhriller. Auf jeden Fall sind Sie von der Handlung gebannt. Plötzlich jedoch stoppt der Film und das Licht geht an. Jemand kommt auf die Bühne und erklärt Details aus dem Film, z.B. dass der Pächter der Bar, in dem das junge Liebespaar sitzt, früher vollkommen pleite war. Oder die Pistole von Agent X, der gerade den zentralen Bösewicht erledigen will, sei vom Typ Z, der von der Firma Y erst kürzlich auf den Markt gebracht wurde.
Was glauben Sie, was im Kinosaal in dem Moment passiert? Wie viele Packungen Popcorn fliegen nach vorne?
Ein Autor sollte in seinen Bücher nicht so handeln wie der bedauernswerte Kinobesitzer. Anstatt den Leser eigene Rückschlüsse ziehen zu lassen, wird er manchmal wie ein kleines Kind an die Hand genommen. Der brave Onkel Autor erzählt dem kleinen Leser jetzt, wie das alles zusammenhängt. Dann schaltet er das Licht im Kinosaal wieder aus und die Handlung geht weiter.
Die Vorgeschichte von Romanfiguren ist wichtig. Die Fragen, die man sich als Autor stellen sollte, sind meiner Ansicht nach folgende:
- Welcher Umfang wird benötigt?
- Muss alles gleich beim ersten Auftauchen einer Figur präsentiert werden oder lieber verteilt in kleinen Happen?
- Sollte man es genau an dieser Stelle präsentieren, oder lieber einige Kapitel später?
- Was ist überhaupt relevant für die Handlung? Braucht der Leser die Info? Kann man sie weglassen?
Nützlich ist auch folgende Checkliste:
- Es ist zu viel Vorgeschichte im Roman, wenn sie der Leser bemerkt
- Es ist zu viel, wenn der Leser sie überblättert
- Es ist zu viel, wenn sie den Schwung aus der Handlung nimmt
- Es ist zu viel, wenn mehr Vorgeschichte als aktuelle Handlung in der Szene auftaucht
- Es ist zu viel, wenn sie mehrere Szenen oder Kapitel hintereinander unterbricht
- Es ist zu viel, wenn eine Romanfigur fast nur in der Vergangenheit verweilt
- Es ist zu viel, wenn fast jede Romanfigur eine Rückblende braucht
Mit der Vorgeschichte ist es wie mit einer Suppe. Ohne Salz schmeckt sie fade, doch zu viel Salz schadet ebenfalls. Seien Sie selbstkritisch bei jeder Rückblende.
Lesen Sie in „Gestrandet in der Zeit“, wie ich die Vorgeschichte meiner Romanfiguren mit der Handlung verwoben habe.
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Ab und an sind Rückblenden schon wichtig für die Handlung, das stimmt. Mit Maß und Ziel – lautet meine Devise. Nicht zuviel, aber auch nicht zuwenig davon verwenden.
z.B. A findet das alte Tagebuch der verstorbenen Großmutter auf dem Speicher/dem Flohmarkt oder wo auch immer und erzählt B davon.
Oder: C träumt etwas.
Oder: D erzählt E und F etwas aus seiner Vergangenheit.
Natürlich sind alle Erlebnisse wichtig, um eine Figur näher kennenzulernen.
z.B. Hätte A das Tagebuch nie gefunden, hätte er/sie das Verhalten der Großmutter nicht nachvollziehen können.
Ich schreibe gerne Rückblenden, in welchen sich die Charaktere an etwas erinnern/jemand anderem davon erzählen/ein Tagebuch führen, das erst Jahre später entdeckt wird etc.
Allerdings nicht im ersten Kapitel der Handlung, da gebe ich dir recht, da ist eine Rückblende nur störend.
Rückblenden sind meiner Ansicht nach ein zweischneidiges Schwert. Am Beginn eines Romans sicherlich tödlich, denn der Leser möchte wissen, was aktuell passiert und nicht das, was vor Eintritt der Romandhandlung geschah. Eine Rückblende am Anfang verhindert den Einstieg in die Story. Andererseits könnte eine Rückblende einige Kapitel später angebracht sein. Ich erinnere mich bei Rückblenden jedoch immer an einen Satz aus einem amerikanischen Schreibratgeber, den ich so übersetze: „Wann immer du die Handlung stoppst, um Backstory zu erzählen, hast du die Handlung GESTOPPT!“