Regelmäßige Besucher des Blogs kennen bereits die Übersicht der meisterhaften Romananfänge. Oft liest man in diversen Ratgebern, dass es gerade auf den ersten Satz ankommt. Dieser soll den Haken bilden, den der Leser anbeißt wie ein Fisch seinen Köder. Doch kann man das so generell sagen?Ist der berühmte, vielleicht sogar der berüchtigte, erste Satz nicht überbewertet? Trifft sie zu, die Überschrift: Überbewerteter erster Satz? Die Frage war für mich der Anlass, im Gegensatz zu den meisterhaften Romanfängen, nach eher banalen zu suchen. Wem das Wort banal nicht gefällt, ersetze es gedanklich mit gewöhnlich.
Breaking News! Ich wurde fündig! Nicht bei Ladenhütern, die ohnehin keiner liest oder den bedauernswerten Opfern von Pseudo-Verlagen, die alles drucken, solange man als Autor genügend Geldscheine auf den Tisch legt. Nein, es handelt sich bei nachfolgenden banalen Romananfängen um Titel, die sich in Bestsellerlisten finden. Starten wir nun unsere Auswahl eher langweiliger Romananfänge, die vor allem eines beweisen:
Der erste Satz ist nicht so wichtig. Alle weiteren Sätze bis zur letzten Seite zählen mehr!
Thomas Harris: Das Schweigen der Lämmer
„Die Abteilung Verhaltensforschung, die beim FBI für Serienmorde zuständig ist, befindet sich, halb unter der Erde, im untersten Geschoss der Academy in Quantico.“
Donna Leon: Das goldene Ei
„Es war ein ruhiger Abend daheim bei den Brunettis, man saß friedlich vereint beim Essen.“
Tja, was gibt es langweiligeres als eine Familie beim Abendessen? Trotzdem – oder gerade deshalb? – schafft Donna Leon es, gute Krimis in die Bestsellerlisten zu bringen. Die eher banalen Anfänge sind anscheinend eine Art Markenzeichen, wie auch folgender Beginn von „Wie durch ein dunkles Glas“ zeigt:
„Brunetti stand am Fenster und flirtete mit dem Frühling. Er war da!“
Nun, was habe ich noch in meiner Fundgrube? Beispielsweiser diesen Beginn:
Marc Elsberg: ZERO – sie wissen, was du tust.
„Hast du Steine da drin?“, ächzte Cynthia Bonsant, als sie einen Umzugskarton auf den Arbeitsplatz ihres neuen Tischnachbarn wuchtet.
Donna Tartt: Der Distelfink
„Noch während des Aufenthalts in Amsterdam träumte ich das erste Mal von meiner Mutter.“
Simon Beckett: Der Hof
„Der Wagen fährt auf den letzten Tropfen. Seit Stunden keine Tankstelle, und die Tankanzeige ist tief in den roten Bereich gerutscht.“
Veronica Roth: Die Bestimmung
„In unserem Haus gibt es nur einen einzigen Spiegel.“
Okay, die beiden letzten Anfänge sind zumindest grenzwertig. Man kann sagen, dass es eine Spannung erzeugt, wenn jemand mit fast leerem Tank durch die Gegend fährt. Ebenso ist es natürlich interessant zu überlegen, warum es in einem Haus nur einen Spiegel gibt. Wen es stört, dass die beiden Romananfänge in der Liste auftauchen, sollte sie gedanklich entfernen. Dafür habe ich folgenden eindeutigen Kandidaten zu bieten:
Karen Rose: Todesschuss
„Als es an der Bürotür klopfte, hob Todd Robinette den Blick und starrte düster auf das dunkle Holz.“
Wie wäre es noch damit? Zwei Leute sitzen in einem Fahrzeug und eine der beiden raucht.
Jojo Mojes: Weit weg und ganz nah
„Jess Thomas und Nathalie Benson saßen tief versunken in den Sitzen Ihres Reinigungstransporters, der in sicherer Entfernung von Nathalies Haus stand, so dass sie von dort aus nicht gesehen werden konnten. Nathalie rauchte.“
Cassandra Clare: City of Ashes
„Die gewaltige Konstruktion aus Glas und Stahl an der Front Street ragte wie eine glänzende Nadel in den Himmel – das Metropole, das exklusivste Apartmenthaus in Manhattan.“
Stephen King: Feuerkind
„Daddy, ich bin müde“, sagte das kleine Mädchen in der roten Hose und der grünen Bluse gereizt.
Patricia Cornwell: Scarpatta Factor
„Ein eiskalter Wind pfiff vom East-River herüber und zerrte an Dr. Kay Scarpattas Mantel, als sie die Thirtieth Street heruntereilte.“
George RR Martin: Die Herren von Winterfell
„Wir sollten umkehren“, drängte Gared, als es im Wald um sie zu dunkeln begann. „Die Wildlinge sind tot.“
Last but not least ein Klassiker, nämlich Gustave Flaubert und sein bekannter Roman „Madame Bovary“:
„Wir waren beim Studium, als der Direktor eintrat, gefolgt von einem bürgerlich gekleideten Neuen und einem Schuldiener, der ein großes Pult trug.“
Nun, zu Flauberts Zeiten konnte man es sich noch leisten, mit dem Schulbeginn des Protagonisten zu starten und mit seiner Beerdigung den Roman zu beenden. Heute würde der Leser ein Gähnen unterdrücken.
Bevor wir wirklich Schluss machen, noch zwei Romananfänge von Bestsellern:
Ken Follet: Der Mann aus St. Petersburg
„Es war ein gemütlicher Sonntagnachmittag, wie Walden ihn liebte. Er stand am offenen Fenster und starrte auf den Park hinaus.“
Nun, als würdiger Abschluss dieses Beitrags, der absolute Meister seines Fachs:
Ernest Hemingway: Wem die Stunde schlägt
„Er lag der Länge nach auf dem braunen, nadelbedeckten Boden des Waldes, das Kinn auf die verschränkten Arme gestützt, und hoch über ihm wehte der Wind durch die Wipfeln der Kiefern.“
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Ich messe dem ersten Satz keine wirklich große Bedeutung zu. Manche Autoren/Autorinnen schreiben einen großartigen ersten Satz und lassen dann (aus meiner sicht) nur Müll folgen, bei anderen ist es genau umgekehrt. „Der erste Satz“ steht für mich eher als Synonym für den Aufbau eines Romans. Einige beginnen mit dem beschaulichen Aufbau der Handlung und einer ausschweifenden Beschreibung, andere wiederum werfen die Leserschaft sofort in eine Handlung hinein und liefern den Backround nach. Ich persönlich bevorzuge diese Weise, eine Geschichte zu beginnen.
Ich finde den ersten Satz „In unserem Haus gibt es nur einen einzigen Spiegel.“ extrem neugierig machend, ja sogar poetisch.
Auch den Anfang des „Distelfinken“ finde ich sehr gut.
Angeblich soll ja Grass‘ „Ilsebill salzte nach“ einer der besten Anfänge deutscher Literatur sein. Na ja.
Interessant ist auch das Experiment: Könnten letzte Sätze auch erste Sätze sein?
Der hier ist übrigens wirklich gut:
You think it will never happen to you, that it cannot happen to you, that you are the only person in the world to whom none of these things will ever happen, and then, one by one, they all begin to happen to you, in the same way they happen to everyone else.
(Paul Auster: Winterjournal)
Hallo Lawendula
Ist natürlich alles Ansichtssache mit den ersten Sätzen. Immerhin hat Veronica Roth damit einen Bestseller gelandet, was für den Anfangssatz spricht. Danke für den Kommentar und die Beispiele. Sie sind gut gelungen, gefällt mir.