Echte Romanfigur erschaffen, keinen Pappaufsteller

Im letzten Blogbeitrag sprach ich die missglückte Story einer unerfahrenen Autorin an. Ihre Romanfigur ist eine leere Hülle, keine echte Person. Woher kommt der typische Anfängerfehler misslungener Romanfiguren? Wie kann die Erschaffung von Pappaufstellern vermieden werden?

Anfänger denken eine Story oft zu sehr vom Plot her.  Der Charakter, die Persönlichkeitsstruktur ihrer Romanfiguren bleibt dabei leider oft auf der Strecke. In der besprochenen Fantasy-Story soll z.B. die weibliche Heldin von A nach B reisen. Damit beginnt das Problem.

Folgende Frage muss sich ein Autor, eine Autorin stellen, bevor sie ihre Figur auf die Reise schickt:

Wieso hält sich die Romanfigur momentan bei A auf?

Banal? Ganz im Gegenteil. Es ist essentiell, die wichtigste aller Fragen. Es gibt einen Grund dafür, weshalb der Ort A derzeit so beliebt ist. Die Heldin hat dort ihren Lebensmittelpunkt, lebt wahrscheinlich mit ihrer Familie da bzw. geht dort zur Schule, wie im zuletzt besprochenen Beispiel.  A prägte im Regelfall einen größeren Teil ihres Lebens. Sie hat hier buchstäblich Wurzeln geschlagen.

Damit kommen wir zum nächsten Fragenkomplex:

Was verbindet die Romanfigur mit dem Ort A? Welche Emotionen kommen hoch, sobald sie daran denkt? Sind sie positiv?

Falls der Autor/die Autorin die letzte Frage mit Ja beantwortet:

Wieso sollte die Romanfigur dann von A nach B gehen? In A ist doch alles in Ordnung? Dort leben Freunde, Familie, die Umgebung ist toll und selbst bei miesem Wetter wärmt allein der Gedanke an A das Herz.

Kann B dann nicht gestohlen bleiben?

In solchen Fällen hilft es, wenn der Autor/die Autorin gedanklich die Position der Romanfigur einnimmt. Jemand kommt zum Autor/der Autorin und fordert sie auf, wegen eines ganz wichtigen Problems, der Beseitigung einer drohenden Gefahr, der Rettung der Welt – irgendwas – sofort ihren bisherigen Wohnort zu verlassen und in das unbekannte B umzuziehen.

Wie würde Ihre Antwort lauten?

Die Situation taucht in beinahe jeder Fantasy-Story auf. Die Romanfigur ist in Wahrheit nicht das Mädchen von nebenan, die Schülerin, die Aushilfskraft im Supermarkt, sondern die bisher unerkannt lebende Prinzessin, Kriegerin, Tochter der glorreichen Zauberin – irgendwas. Leider plant der böse Grumblfix mit seinen Schergen schlimme Dinge. Deshalb soll die Romanfigur dringend an eine Zauberschule, Kampfschule, Ausbildungscamp, umziehen und alles lernen, was man im Kampf gegen Grumblfix braucht.

Anfänger halten sich mit dem Umzugsproblem nicht besonders lange auf, sondern legen ihrer Romanfigur ungefähr einen Satz wie diesen in den Mund: „Klasse! Da wollte ich schon immer hin. Wann reisen wir ab?“

Selbst bei Harry Potter geht die Autorin sehr sensibel mit dem Thema um. Harry lebt bei den Dursleys in ärmlichen Verhältnissen und ist ein ungeliebter Gast. Sollte die Einladung nach Hogwarts dann nicht für Harry und die Dursleys eine klassische win-win Situation sein, mit Vorteilen für beide Seiten? Die Dursleys verlieren einen ungeliebten Gast und Harry gewinnt ein neues Zuhause in Hogwarts.

Seltsamerweise gibt es keine Friede-Freude-Eierkuchen-Situation. Die Dursleys hassen Hogwarts, weil Harrys Mutter dort war. Selbst Harry ist wenig begeistert, da eine Zauberschule für ihn eine fremde Umgebung ist. Bis zum tatsächlichen Aufbruch nach Hogwarts vergehen einige Buchseiten.

Warum entschied die Autorin sich für diese Entwicklung? Zwei Punkte sind denkbar. Das Konzept der Heldenreise erfordert, dass der Held/die Heldin anfangs den Ruf zum Start des Abenteuers verweigert. Die Autorin folgte mit dem Zögern Harrys genau den Anforderungen des Genres.

Zweitens wäre es denkbar, dass die Autorin ein Spannungselement haben wollte. Die im Anfängermodus so häufig vorkommende Situation der schnellen Zusage, oder der Zusage nach einer „langen“ Bedenkzeit von vielleicht zwei Minuten, hat Frau Rowling vermieden. Lesen Sie „Stein der Weisen“ unter Berücksichtigung dieses Umstandes. Wie viele Seiten vergehen zwischen der ersten Benachrichtigung betreffend Hogwarts und der finalen Zusage? Verspüren Sie Spaß beim Lesen dieser Seiten?

Dann hat Frau Rowling ihren Job gut gemacht. Wie ist es bei Ihnen? Falls Ihre Romanfigur auch umziehen muss, planen Sie es gut. Schnelligkeit ist ein Feind der Qualität.

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Bildquelle

  • Dialoge: aechan freedigitalphotos.net

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