In dem Beitrag über Jeff Gerke „The first 50 pages“, stellte Herr Gerke die These auf, dass die erste Seite des Romans sowohl Spannung vermitteln muss, als auch Lust aufs Weiterlesen. Wie kann man das erreichen?
Gibt es Möglichkeiten, etwas aus der ersten Seite zu lernen? Um das zu prüfen vergleiche ich eine Pseudo-Vampirstory aus einem Zuschussverlag mit dem Vampirroman der Bestseller-Autorin Laurell K. Hamilton.
Hier der Text aus dem Zuschussverlag, mit der – wie üblich – anonymisierten Autorin.
An einem sonnigen und warmen Samstag gingen Luna und ich shoppen. Endlich war der Schnee weg und die Straßen und Wege waren wieder begehbar. Vogelstimmen erklangen kräftig und ausdauernd an jeder Ecke und einige Frühblüher zeigten ihre Pracht. Die Sonne warf warme Strahlen zu uns herab. Der dunkle, kalte Winter war lang gewesen, aber der Frühling war endlich da. Von Tag zu Tag wurde es nun immer wärmer, und dieser Tag schien besonders schön zu werden.
Es war ein Tag mitten im April und wir waren am Ende der Osterferien angekommen. Luna hatte sehr gute Laune. Sie hüpfte regelrecht zum Center. Dabei hopsten ihre blonden langen Locken im Takt mit. Ihre dunklen Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. Das rote Kleid, das sie heute trug, stand ihr besonders gut und schwang ebenfalls im Takt mit. Meine Laune hielt sich in Grenzen, obwohl ich gern shoppen ging. Zu meinen hellblonden Haaren, die knapp über der Schulter aufhörten, trug ich ein schlichtes T-Shirt und eine Dreiviertelhose. Meine Sonnenbrille hatte ich zu Hause vergessen. Mit meinen grünblauen Augen blinzelte ich zur Sonne hoch.
Luna schaute zu mir und sagte: „Mach nicht so ein Gesicht, Fiona. Die Sonne strahlt, das Wetter ist herrlich.“
Ich erwiderte ihren Blick und antwortete: „Ja, das Wetter ist herrlich, aber ich brauche neue Unterwäsche und ich will auf keinen Fall von einem Bekannten gesehen werden. Das wäre peinlich.“
Dabei verzog ich mein Gesicht zu einer sieben-Tage-Regen-Grimasse.
Luna erwiderte: „So schlimm? Ich bin doch bei dir.“
Natürlich war ich heilfroh, dass sie mitkam. Ich musste sie nicht bitten. Wir erreichten nach einer Ampelkreuzung das Center, welches aus mehreren Etagen bestand. Gemeinsam gingen wir durch eine Drehtür und zwei Rolltreppen höher. Gleich der Laden auf der rechten Seite war der richtige. Es war unser Lieblingscenter und sehr groß. Insgesamt vier Etagen mit vielen schönen Läden.
Luna trat entschlossen durch die Ladentür, ich folgte ihr zögernd. Ich redete mir ein, dass in dem Moment kein Mensch hier sein würde, während ich schnell Unterwäsche kaufte. Ich sah Unmengen an Klamotten und fühlte mich überfordert. Ich erblickte hinten links die Damenunterwäsche und machte mich auf den Weg. Mir war das alles ziemlich peinlich, aber irgendwie musste es doch klappen.
Ich lief nicht direkt nach hinten links, sondern lief einen Umweg, um dort hinzukommen. Hatten eigentlich alle Probleme damit, sich Unterwäsche zu kaufen, oder war ich mal wieder die Einzige? Ich schlich mich durch die Reihen, in der eine Unterwäsche neben der anderen hing. Beim Durchgehen, schnappte ich mir unauffällig zwei Mal weiße Unterwäsche und war auch schon in der Kabine verschwunden. Das klappte doch gut, würde ich jetzt jedenfalls behaupten.
Ich zog mich schnell um. Ich hätte am liebsten den Laden auf direktem Wege wieder verlassen und ich würde dieses Jahr nicht wiederkommen. Durch einen kleinen Schlitz lugte ich durch den Vorhang. Der Laden war zum Glück nicht überfüllt. In der Damenabteilung hielt sich so gut wie keiner auf, obwohl heute Samstag war und die Läden hätten eigentlich überfüllt sein müssen. Darüber wunderte ich mich schon irgendwie, aber das sollte mir nur recht sein. Luna, bist du in der Nähe? Ja, komm raus, ich sehe dich. Da war ein Junge, der so merkwürdig geguckt hat, deshalb habe ich mich unsichtbar gemacht.
Ich seufzte und antwortete laut: „Du hast es gut, das will ich jetzt auch können.“ Ich schaute noch mal nach links und rechts, aber keiner war zu sehen. Langsam kam ich aus meiner schützenden Kabine heraus. Es war ein komisches Gefühl, sich fast nackt zu präsentieren, als wäre ich ein Model.
Was verrät uns der Text, immerhin 590 Worte stark? Zwei Mädchen gehen an einem sonnigen Samstag shoppen. Wir erfahren etwas über ihr Aussehen, die Mini-Probleme der Protagonistin betreffend Shopping etc. Schön, aber leider vor allem eines: Schön langweilig.
Jeff Gerke schreibt in „The first fifty pages“, dass die erste Seite bereits fesseln, Aufmerksamkeit erregen muss. Das obige Beispiel soll etwas mit Vampiren und Werwölfen zu tun haben. Merkt man davon etwas? Nein. Erst zum Schluss wird aufgedeckt, dass eines der Mädchen sich unsichtbar machen kann. Das ist die erste Andeutung von Fantasy-Elementen.
Zu wenig und viel zu spät. Der Beginn des Romans, die erste Seite, ist Langeweile pur, ohne Rätsel, ohne erkennbare Probleme und das Versprechen auf eine spannende Story.
Wie geht ein Profi an die Sache heran? Ich wählte ein Beispiel aus dem gleichen Genre, einen Vampirroman der Autorin Laurell K. Hamilton. Ihr Werk „Bittersüße Tode“ handelt von der Vampirjägerin Anita Blake. Obwohl sie diese Wesen jagt, macht sie mit ihnen auch Geschäfte, wie das Beispiel der ersten Seite zeigt:
Willie McCoy war schon vor seinem Tod ein Blödmann gewesen. Dass er nun tot war, änderte daran nichts. Er saß mir gegenüber in einem grell karierten Sakko. Seine Polyesterhose war hellgrün. Das kurze schwarze Haar hatte er sich aus dem dünnen dreieckigen Gesicht nach hinten geklatscht. Er hatte mich schon immer ein wenig an eine Gestalt aus einem Gangsterfilm erinnert. Die Sorte, die Informationen verkauft, Aufträge ausführt und entbehrlich ist.
Jetzt, wo Willie ein Vampir ist, war die Sache mit der Entbehrlichkeit natürlich nicht mehr von Bedeutung. Aber er verkaufte noch immer Informationen und machte Botengänge. Nein, der Tod hatte ihn nicht besonders verändert. Aber für alle Fälle vermied ich es, ihm direkt in die Augen zu sehen. Das war die vernünftigste Vorgehensweise, wenn man es mit Vampiren zu tun hatte. Früher war er ein Schleimkübel, jetzt war er ein untoter Schleimkübel. Das war eine neue Kategorie für mich.
Wir saßen in der klimatisierten Stille meines Büros. Die himmelblauen Wände, die Bert, meine Boss, für beruhigend hielt, machten den Raum kalt.
„Was dagegen, wenn ich rauche?“, fragte er.
„Ja“, sagte ich. „Allerdings.“
„Verdammt, Sie wollen es mir nicht leicht machen, wie?“
Einen Moment lang sah ich in direkt an. Seine Augen waren nach wie vor braun. Er fing meinen Blick auf, und ich schaute sofort auf den Schreibtisch.
Willie lachte, ein keuchendes Gewieher. Das Lachen war das Gleiche geblieben. „Sieh mal an, das gefällt mir. Sie haben Angst vor mir.“
„Nein, keine Angst, bin nur vorsichtig.“
„Sie brauchen es nicht zuzugeben. Ich kann Ihre Angst riechen, fast als würde sie mir ins Gesicht, ins Gehirn wehen. Sie haben Angst vor mir, weil ich ein Vampir bin.“
Ich zuckte die Achseln; was hätte ich sagen sollen? Wie belügt man jemanden, der Angst riechen kann? „Warum sind Sie hier, Willie?“
„Mensch, ich würde so gerne eine rauchen.“ In seinem Mundwinkel begann es zu zucken.
„Ich wusste nicht, dass Vampire nervöse Zuckungen haben können.“
Seine Hand fuhr in die Höhe, fast hätte er danach getastet. Er lächelte, seine Beißer blitzten. „Manche Dinge ändern sich eben nicht.“
Ich wollte ihn fragen, was sich daran änderte. Wie fühlt man sich, wenn man tot ist? Ich kannte andere Vampire, aber Willie war der erste, den ich schon vor seinem Tod gekannt hatte. Es war ein seltsames Gefühl. „Was wollen Sie?“
„He, ich bin hier, um Ihnen Geld zu geben. Um Ihr Klient zu werden.“
Ich sah zu ihm hin, mied aber seinen Blick. Das Deckenlicht fing sich in seinem Krawattenknopf. Echtes Gold. Früher hatte Willie nie so etwas gehabt. Für einen toten Mann ging es ihm recht gut. „Ich lebe davon, dass ich Tote aufwecke, ohne Scherz. Wofür könnte ein Vampir einen Zombie gebrauchen?“
Er schüttelte den Kopf, zwei schnelle Rucke nach jeder Seite.
Wie geht die Autorin Hamilton vor? Das Schema ist klar erkennbar.
Den Anfang bildet ein ausgezeichneter erster Satz, eine Mischung aus Spott und Rätsel:
Willie McCoy war schon vor seinem Tod ein Blödmann gewesen.
Natürlich fragt man sich, was das bedeuten soll. Der Satz ist ein ausgezeichneter Haken, der den Leser einfängt, Fragen aufwirft. Die Antwort kommt sofort im nächsten Satz:
Dass er nun tot war, änderte daran nichts. Er saß mir gegenüber in einem grell karierten Sakko. Seine Polyesterhose war hellgrün.
Ein Blödmann zu Lebzeiten ist nun ein toter Blödmann und sitzt als Toter im Büro der Protagonistin? Eine gelungene Kombination, die beim Leser weitere Fragen entstehen lässt. Wie kann man die eigene Neugier befriedigen? Man liest weiter.
Es folgt eine kurze Beschreibung von Willies Aussehen, verbunden mit Hinweisen auf seinen Charakter. Ebenfalls erfährt man, dass Willie ein Vampir ist. Das gibt unabhängig vom Klappentext den Hinweis auf das Genre.
Die Kulisse wird kurz gestreift, in knappen Worten das Aussehen des Büros geschildert. Interessanterweise aus der Sicht der Protagonistin (Mein Boss hält es für gut, ich finde es kalt). So soll die Beschreibung der Kulisse sein: Darstellung des Effektes den die Umgebung auf die Romanfigur hat.
Der nachfolgende Dialog bekommt Spannung durch einen Konflikt. Willie will eine Zigarette rauchen, Anita Blake hat etwas dagegen. Übrigens eine interessante Abkehr vom üblichen Vampir-Klischee: ein nikotinsüchtiger Vampir! Auch das ist Zeichen für das Können der Autorin. Sie geht ungewöhnliche Wege, überrascht die Leser.
Am Ende des Beispiels folgt ein geheimnisvoller Auftrag, der ebenfalls Fragezeichen beim Leser erzeugt. Er hat einen Grund, um umzublättern. Das war das Ziel von Frau Hamilton.
Die erste Seite ist Beweis für die Fähigkeiten und die schriftstellerische Handwerkskunst von Frau Hamilton. Sie verpackt wichtige Informationen in wenigen Worten. Es sind übrigens 458 in dem Beispiel.
Vergleichen Sie: Was gibt die anonymisierte Autorin, die auf einen Zuschussverlag hereingefallen ist, in ihren 590 Worten preis und was Frau Hamilton mit 458? Wie viel Informationen, Spannung, Konflikte, z.B. um die Zigarette, sind in „nur“ 458 Worten verpackt? Wie viel Lust zum Weiterlesen?
Frau Hamilton startet den Roman übrigens dort, wo man ihn beginnen soll: In der Mitte einer Handlung. Anita Blake und der Vampir sitzen bereits im Büro. Die Autorin verschwendet keine Zeile für z.B. das Klopfen an der Tür, Begrüßung, Vorstellung des Anliegens des Besuchers usw. Aus dem Satz: „Wofür könnte ein Vampir einen Zombie gebrauchen?“ erfahren wir, dass es Vorgespräche vor Beginn des Romans gab. Anita kennt das Anliegen von Willie bereits. Laurell Hamilton lässt die Handlung kurz vor dem Konflikt starten. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt.
Der Unterschied zwischen Profi und Amateur zeigt sich also schon auf der ersten Seite und hier besonders im ersten Satz. Jeff Gerke schreibt, dass man zehn Sekunden hätte, um das Interesse eines Verlagslektors zu wecken. Frau Hamilton hat es erreicht. Ich kann ihr Buch guten Gewissens empfehlen.
byBildquelle
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