Realistische Hauptfiguren planen

Deine Hauptfigur ist ein Pappaufsteller! Kennen Sie den Vorwurf? Er ist hart, aber in vielen Fällen gerechtfertigt. Hier ein paar Tipps, wie man Fallstricke vermeidet.

Nehmen wir an, Sie planen folgenden Romanbeginn: Eine Witwe ist mit Kleinkindern allein im Haus. Plötzlich kommt ein Fremder herein, bittet darum, nicht verraten zu werden und versteckt sich. Die Witwe ist übermüdet, weshalb sie in diesem Zustand der unerwarteten Anwesenheit des Fremden wenig Aufmerksamkeit schenkt. Stattdessen legt sie sich schlafen, wird aber gestört von bösen Jungs. Diese verlangen Auskunft über den Fremden, suchen ihn. Die Witwe verschweigt dessen Anwesenheit. Die Fremden gehen wieder.  – Ende des Kapitels –

Finden Sie den Plot realistisch? Oder denken Sie eher an Logikfehler? Ein Logikfehler ist beispielsweise die Reaktion der Witwe. So übermüdet kann eine Mutter nicht sein, dass sie auf die Anwesenheit eines Fremden so gut wie nicht reagiert, keine Angst zeigt usw.

Woher kommen solche Fehler? Sie sind typisch für das Denken vom Plot her. Zwei Romanfiguren sollen sich treffen, eine Beziehung aufbauen und dadurch die Handlung in Gang bringen. Das ist der Wille des Autors, der Autorin, so wird es gemacht. Denn ohne das Treffen der beiden kann der Plot nicht weitergehen.

Planung des Charakters

Nun, es ist zwar so, dass Romanfiguren am Faden der Autorin hängen. Das Publikum will aber eine Illusion. Es ist die Illusion, dass die Figuren selbständig handeln, einen eigenen Willen haben – also lebende Personen sind. Der Eindruck, Puppen vor sich zu haben, deutlich die Fäden der Puppenspielerin zu sehen, vielleicht noch deren Hände, zerstört den Eindruck. Bei einem Roman führt das zur Zurückweisung. Das Buch wird schon nach dem ersten Kapitel weggelegt.

Somit kommen wir zum Plot zurück. Zwei Fremde sollen eine Beziehung aufbauen und das noch unter außergewöhnlichen Umständen. Der erste Schritt bei der Planung eines solchen Ereignisses ist das Denken vom Charakter her. Die Hauptfigur ist die Witwe. Wie muss der Charakter der Frau beschaffen sein, damit sie die plötzliche Anwesenheit eines Fremden akzeptiert?

Sie könnte extrem gutmütig veranlagt sein, stets hilfsbereit gegenüber jedem. Zusätzlich könnte der Fremde sichtbare Verletzungen haben, um Hilfe bitten und keinesfalls bedrohlich aussehen. Damit wäre die Handlungsweise der Witwe einigermaßen glaubhaft.

Bleibt das zweite Problem: Wie erfährt der Leser den Charakter der Witwe möglichst so, dass er es ohne Schwierigkeiten akzeptiert? Der einfachste – und auch falsche Weg wäre Backstory in der Form: Seit Jahren ist X eine Witwe. Sie ist aufgrund ihrer Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft im Ort sehr beliebt.

Besser wäre es, den Lesern den Charakter der Witwe durch ihre Taten zu vermitteln. Dazu gehört eine Szenenplanung, der die Witwe in Situationen zeigt, in der sie ihre Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit unter Beweis stellt. Mit diesem Hintergrundwissen finden Leser die Situation des Auftauchens des Fremden unter einem anderen Licht. Die Vorgehensweise der Witwe erscheint als Teil ihres üblichen Handelns und somit glaubhaft.

Folgende Fragen an die Hauptfigur eines Romans haben sich bewährt:

Wer bist du und was ist deine Aufgabe in der Handlung?

Als Antwort genügen knappe Beschreibungen: Ich bin eine Witwe, die einem Fremden hilft und dadurch in Schwierigkeiten gerät. Ich bin zeitreisende Polizistin auf der Suche nach einem ebenfalls zeitreisenden Täter. Ich bin Alkoholiker und erfahre Dinge, die mich in weitaus größere Probleme stürzen.

Was für Probleme hast du gerade?

Die Romanfigur darf eine Handlung niemals leer betreten. Sie hat schon vorher Probleme, unter denen sie vielleicht sogar unwissentlich leidet. Ohne diese Schwierigkeiten ist die Hauptfigur langweilig. Das schlimmste, was eine Figur vermitteln kann, ist Langeweile. Wer will Geschichten über langweilige Personen lesen?

Vermeiden Sie das und laden Sie der Hauptfigur schon mal ordentlich Probleme auf. Die Romanhandlung ist dann wie ein zusätzlicher Mühlstein um den Hals, der alles noch viel schlimmer macht.

Ist die Art und Weise, wie du Probleme angehst, förderlich oder hinderlich für die Lösung derselben?

Die Hauptfigur könnte beispielsweise einer Problemvermeidungsstrategie anhängen. Geh Ärger aus dem Weg, dann ist alles in Ordnung. Ausweichen um jeden Preis ist die Devise.

Spannung kommt dann auf, wenn das auf einmal nicht mehr funktioniert, die Hauptfigur buchstäblich auf dünnem Eis laufen muss. Schaffen Sie Situationen, in denen alte Methoden nicht mehr funktionieren, Ihre Figur dazu gezwungen wird, Vertrautes zu verlassen.

Was willst du am meisten erreichen bis zum Ende der Handlung?

Treten Sie einen Schritt zurück und betrachten Sie die geplante Handlung von Anfang bis Ende. Was genau ist das Ziel der Hauptfigur?

Denkbare Ziele wären beispielsweise:

Eine vermisste Person finden

Die Bewerbung um einen guten Job gewinnen

Von einem sinkenden Schiff herunterkommen

Die Liebe des Lebens endlich von sich zu überzeugen

Was für schlimme Dinge passieren, falls du scheiterst?

Hier geht es wieder um die Vermeidung von Langeweile. Es muss für die Hauptfigur etwas auf dem Spiel stehen. Keinesfalls darf sie schulterzuckend ihr Scheitern eingestehen nach dem Motto“: „Okay, ging schief. Morgen ist auch noch ein Tag. Kein Grund zur Aufregung.“

Beispiele:

Wenn ich die vermisste Person nicht finde, sinkt mein Ansehen als Ermittlerin auf den Tiefpunkt.

Wenn ich die Bewerbung vergeige, hänge ich bis zur Rente in einem miesen Job.

Wenn ich das sinkende Schiff nicht verlasse, ertrinke ich.

Wenn ich die Liebe des Lebens nicht für mich gewinne, werde ich einsam bleiben.

Wer oder was hält dich auf?

Denken Sie nicht nur an Kategorien wie Gut und Böse. Die Hauptfigur braucht eine Gegenspielerin. Sie muss schlau sein und große Fähigkeiten besitzen. Denken Sie an ein Tennisspiel. Zwei ebenbürtige Gegnerinnen auf dem Platz, die sich nichts schenken, erzeugen Spannung bei den Zuschauern. Eine dominante Spielerin und eine Anfängerin, die jeden Ball vergeigt, erzeugen hingegen Langeweile.

Wenn dich ein Menschen aufhält, warum tut er/sie das? Welche Ziele will er/sie durchsetzen und warum stehen diese Ziele im Gegensatz zu deinen?

Damit sind wir wieder bei den Kategorien von Gut und Böse. Gegenspielerinnen sind nicht automatisch böse. Sie verfolgen nur völlig andere Ziele. Die Mitbewerberin um die gute Stelle will den Job genauso dringend wie die Hauptfigur. Allein dadurch sind beide Personen Gegenspieler. Nur eine kriegt den Job. Ein Kompromiss ist unmöglich.

Wann tauchst du erstmals in der Handlung auf?

„Man bekommt keine zweite Chance, um einen ersten Eindruck zu hinterlassen.“ Der Spruch gilt besonders für Hauptfiguren. Wann und wie sie vorgestellt wird, hinterlässt beim Leser einen wichtigen Eindruck. Zu Anfangs ist ein Leser besonders neugierig, versucht sich ein Bild von der Hauptfigur zu schaffen. Wer ist sie? Woher kommt sie? Was sind ihre Probleme?

Warum soll ich mich für dein Schicksal interessieren? Was an deinen Charakterzügen macht dich für mich als Leserin sympathisch? Warum soll ich dir die Daumen drücken, dass du deine Ziele erreichst?

Ein typischer Fehler ist es, keine Sympathie bei den Lesern zu wecken. Die Hauptfigur wird in die Handlung geworfen, muss diese und jene Gefahren bestehen, siegt am Ende. Trotzdem finden Leser die Figur langweilig. Warum? Es fehlt die emotionale Bindung.

Sie könnte durch folgendes erreicht werden:

Mitleid wegen der unverschuldeten Lebenssituation

Empathie, weil die Hauptfigur sehr hilfsbereit und uneigennützig ist

Die Hauptfigur hat beeindruckende Fähigkeiten oder Kenntnisse, tritt aber trotzdem sehr bescheiden auf

Die Hauptfigur ist ein echter Kumpeltyp, fröhlich und unterhaltsam

Sie wird dauernd nur herumgeschubst, verdient aber das Gegenteil

Andere sind in großer Sorge um die Romanfigur und wollen ihr helfen

Welche wichtigen Dinge fehlen dir gerade im Leben?

Hier geht es tief in die Charakterplanung für die Hauptfigur. Sie will z.B. die Bewerbung um den Job nicht nur gewinnen, weil sie dann mehr Geld verdient. Vielleicht sucht sie eher Ansehen oder Bestätigung? Vielleicht litt sie schon in der Kindheit darunter, wenig beachtet zu werden? Das wäre dann das tiefere Motiv für die Bewerbung, die Überzeugung, dass es dieser Job um jeden Preis sein muss, dass ich alles in meiner Macht stehende unternehme, um das selbstgesteckte Ziel zu erreichen. Ohne die Bestätigung durch andere wäre das Leben der Hauptfigur sinnlos.

Was ist dein größtes persönliches Motto oder dein Lebenskonzept?

Antworten beginnen z.B. mit: „Üblicherweise weiche ich Problemen aus, weil …“

„Ich denke, dass es vernünftig ist, …“

Hier werden alte Wunden sichtbar. Wer Ärger immer aus dem Weg gehen will, hat beispielsweise früher dauernd Streitigkeiten verloren. Daraus resultieren Verteidigungsmechanismen wie die konsequente Konfliktvermeidung. Das Lebensmotto speist sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Das ist die Last, welche die Hauptfigur mit sich herumschleppt. Leider kommt der Plot des Romans nochmal oben drauf. Gemein? Absolut! Wer nicht gemein zu seinen Romanfiguren ist, erzeugt keine Spannung. Seien Sie gemein, hinterhältig, rücksichtslos. Die Leser werden es danken.

Welche Fragen würden Ihnen noch einfallen?

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Bildquelle

  • Identity_stuart_Miles: www.freedigitalphotos.net

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