Die erste Seite des Romans – die Leserbewerbung

Die erste Seite eines Romans ist von großer Bedeutung. Im Regelfall findet man in einer Buchhandlung folgende typische Szene: Eine Kundin nimmt ein Buch aus dem Regal, betrachtet Titelbild und Klappentext. Falls sie von beidem angetan ist, schlägt sie die erste Seite auf. Womöglich liest sie mehr als einen Absatz, vielleicht die ganze Seite. Dann trifft sie eine Entscheidung: Kaufen oder zurücklegen?

Das ist die Bewerbung der Autorin an ihre Kundin. Ähnlich der Bewerbung für einen Job sollte das erste Kapitel entsprechend gut formuliert sein. Es sollte eine Vorstellung vermitteln, womit die potentielle Leserin es zu tun hat. Ein spannender Krimi? Eine Protagonistin in großer Not? Wie ist die Stimmung des Romans? Action-geladen? Eher hintergründig nachdenklich? Eine Art Charakterstudie?

Traditionell sollte die erste Seite die klassischen W-Fragen beantworten: Wer macht wann was und warum? Falls das alles nicht auf die erste Seite passt, was an sich kein Missgeschick ist, dann muss die erste Seite zumindest einen Teil der Fragen beantworten und eine elegante Einladung liefern, damit der Leser Lust empfindet, den Rest der Geschichte auf den folgenden Seiten zu erforschen.

So viel zur Theorie.

Betrachten wir nun folgenden Text. Es soll ein Krimi sein. Der Klappentext verrät, dass es um ein geheimnisvolles Gebäude geht, in dem sich mysteriöse Dinge abspielen. Die Heldin der Handlung ist dazu aufgerufen, der ganzen Sache auf den Grund zu gehen. Nachfolgend das erste Kapitel:

Es war schon weit nach Mitternacht, als L endlich bei ihrer Tante in die Einfahrt einbog.

Sie betätigte den Knopf, der das große Eisentor mit leichtem Rucken automatisch öffnete, und fuhr in den Innenhof des riesigen Anwesens. L war erleichtert, den Wagen endlich abstellen zu können. Sie war seit dem Vormittag unterwegs und konnte vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten.

Ihre Tante A  hatte sie gebeten, ihren Urlaub bei ihr zu verbringen, da sie seit ein paar Monaten verwitwet und daher sehr einsam war. Die Villa stand weit abseits der Hauptstraße und war umgeben von Wald und Blumenwiesen. Auch ein kleines Bächlein plätscherte am Haus vorbei und vermittelte dem Besucher das Gefühl, der Hektik des Stadtlebens endlich entgangen zu sein.

L öffnete den Kofferraum und entnahm ihre Koffer und Taschen, die sie für die nächsten drei Wochen benötigen würde. Sie verschloss den Wagen und trat die fünf Stufen der Treppe zum Hauseingang empor und war froh, einen eigenen Schlüssel zu besitzen, um ihre Tante nicht wecken zu müssen.

In der Eingangshalle angekommen, betätigte L den Lichtschalter, was zur Folge hatte, das (sic!) sie für einen kurzen Augenblick die Augen schließen musste, um nicht geblendet zu werden. Viel hatte sich seit ihrem letzten Besuch nicht verändert. Die großen Marmorstatuten ragten stolz links und rechts der Treppe in den ersten Stock empor. Alles blitzte vor Sauberkeit. M, die gute Seele und schon jahrelang Hausmädchen bei ihrer Tante, leistete nach wie vor gute Arbeit.

L sehnte sich nach einem Bett, daher beschloss sie, ihr Schlafzimmer im Obergeschoss aufzusuchen. Dort angekommen, stellte sie ihre Koffer ab, zog ihre Schuhe aus und ließ sich ins Bett fallen. Es dauerte keine Minute und L war eingeschlafen; ohne zu ahnen, dass es die letzte ruhige Nacht für länger sein sollte …

 

289 Worte für das erste Kapitel. Was ist in diesen 289 Worten offenbart worden? Welche spannenden und nervenaufreibenden Abenteuer warten auf die Protagonistin L? Mit welchen massiven Problemen wird sie es in diesem Krimi zu tun haben? Welche Vorschau liefert die Autorin? Welche Erwartungen weckt sie  bei den Leserinnen?

Keine Idee?

Ich auch nicht. Die 289 Worte lassen sich in drei Worten zusammenfassen: „Es passiert nichts.“

Das ist eine schlechte Bewerbung. 289 Worte sind etwas mehr als eine Normseite. In diesen 289 Worten erfahren wir, dass die Protagonistin L das Haus ihrer Tante aufsucht. Sie stellt den Wagen ab, betritt das Gebäude und sucht das ihr bekannte Zimmer auf. Dort bettet sie sich müde zur Nachtruhe.

Das Gefühl grenzenloser Müdigkeit empfindet der Leser nach diesen spannenden Ereignissen ebenfalls. Als kleine Empfehlung zum Lesen des Folgekapitels, flechtet die Autorin eine Art Vorschau ein. Der auktoriale Erzähler verkündet, dass die Protagonistin L nicht ahnt, dass es die letzte ruhige Nacht sein wird.

Ernsthaft? Das soll ein Cliffhanger sein?

Könnte man das nicht anders beschreiben? Wie wäre es, wenn von vornherein klar wäre, dass es sich eben nicht um einen ganz normalen Besuch bei der Tante handelt? Könnte sie vielleicht ein Problem haben, über das sie am Telefon nicht reden will? Könnte man so ein Problem anschaulich im ersten Absatz einbauen und damit dem Leser einen Angelhaken mit daran zappelndem Wurm hinhängen? Würde der Leser sich dann wie ein Fisch verhalten und sofort zubeißen, d.h. im echten Leben das Buch nicht zurück ins Regal stellen sondern damit zur Kasse gehen?

Überlegen Sie nach den 289 Worten ob Sie das Gefühl hatten, den Beginn eines Krimis zu lesen. Ich jedenfalls dachte eher, mich in einem anderen Roman zu befinden, mit einem Titel wie z.B. „Tante A und das alte Haus, Lebenserinnerungen einer Nichte“.

Spannung zu vermitteln hängt vom Geschick der Autorin ab. Versuchen wir doch einmal einen interessanten Beginn zu erschaffen ohne gleich auf Leichen und im Dunkeln lauernde Mörder angewiesen zu sein:

Normalerweise klang Tante A fröhlich am Telefon. So fröhlich, wie man seit dem Tod des geliebten Ehemannes vor zehn Monaten sein konnte. Das gestrige Gespräch jedoch hatte einen seltsamen Unterton gehabt. L stoppte am schmiedeeisernen Eingangstor, ließ den Wagen im Leerlauf. Die Villa sah wie früher aus. Alt,  mächtig, abseits der Hauptverkehrswege und viel zu weit von schneller Hilfe entfernt. Trutzig wie eine Burg ragte das Gebäude in der Abenddämmerung auf. Ein dunkler Klotz, umgeben von hochgewachsenen Tannen. Sie erzeugten den Eindruck erstarrter Monster, die darauf lauerten, nach dem Verschwinden des letzten Tageslichtes zu bösen Taten zu erwachen. Tante A hätte sie schon längst fällen lassen sollen. Selbst bei strahlendem Sommerwetter raubten die Tannen das Licht im Haus. Außerdem konnten unliebsame Besucher sich dort leicht verstecken.

L betätigte den Öffnungsschalter. Mit nervendem Quietschen glitten die Tore auseinander. Irgendetwas stimmte mit Tante A nicht. Ein Wochenende mit der Nichte verbringen, etwas gegen die Einsamkeit des Witwendaseins unternehmen. Es klang normal und seltsam zugleich. L ließ den Wagen mit Schrittgeschwindigkeit in das Grundstück rollen. Man sollte auf die innere Stimme hören.

Was verraten uns die beiden Absätze? Im Grunde nicht viel mehr als das Original. Aber es gibt Unterschiede. Der Besuch bei der Tante steht nun unter einem negativen Vorzeichen. Die telefonische Einladung wird von L als seltsam angesehen. Tante A verhielt sich anders als sonst.

Damit wird bereits ein Zeichen für den Leser gesetzt. Er bekommt einen Vorgeschmack darauf, dass es höchstwahrscheinlich nicht der simple Besuch der Nichte bei der Tante sein wird. Die Eindrücke, die L vom Grundstück gewinnt, unterstreichen den düsteren Unterton. Die Villa wirkt trutzig, die sie umgebenden Tannen verstärken den Eindruck. Sie sehen – zumindest in der Wahrnehmung von L – unheimlich aus. Es passt zu einem Krimi. Irgendetwas ist im Busch, irgendetwas ist anders als sonst. Was genau, erfährt der Leser erst auf den nachfolgenden Seiten. Durch die Andeutungen hat er einen Grund zum umblättern.

Wie könnte man beispielsweise den Romanbeginn formulieren, wenn es sich um eine Love-Story handeln würde? Nehmen wir an, dass die Protagonistin L sich während des Besuchs bei der alten Tante in einen netten jungen Mann verlieben soll. Das erfordert eine eher heitere Grundstimmung des Romans.

Tante A hatte leicht depressiv am Telefon geklungen.  Was sollte man auch erwarten, zehn Monate nach dem Tod des geliebten Ehemannes? Es wurde Zeit für eine Aufmunterung. L freute sich schon auf den Besuch in der alten Villa. Wie eine Märchenburg lag sie abseits der Hauptverkehrswege im Wald, umgeben von ehrwürdigen Tannen, die das Gebäude gegen die lästige Sommerhitze abschirmten. Ob Tante A immer noch als Gärtner den netten Kerl besaß? Ein wenig schüchtern hatte er vor zehn Monaten gewirkt. Das konnte auch an den Begleitumständen gelegen haben. Der Hausherr verstorben, die Trauergemeinde im Gedenken vereint. Da schenkte man der jungen Frau, die einen ausgiebig anlächelte, nur wenig Aufmerksamkeit. L nahm sich vor, dem jungen Burschen an diesem Wochenende gründlich auf den Zahn zu fühlen.

Sie stoppte den Wagen vor dem schmiedeeisernen  Eingangstor.

Die Villa ist nun eine Art Märchenschloss, umgeben von mächtigen Tannen, die das Innere vor der Aufheizung durch Sonnenstrahlen beschützen. Auf diese Weise bleibt es auch im Hochsommer angenehm kühl. L freut sich auf den Besuch und findet ihn eine willkommene Abwechslung zum täglichen Einerlei.

Durch diese Wortwahl ist der Leser bereits eingestimmt auf den Grundtenor des Romans und erwartet auf keinen Fall irgendwo eine herumliegende Leiche. Eher vielleicht einen Streit mit der Tante, die nicht aus dem Alltagstrott ausbrechen will, während die lebenslustige Nichte schon an den hübschen Gärtner denkt.

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Bildquelle

  • NIcola del Mutolo Fotolia.de: Nicola del Mutola Fotolia.de

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