Jeff Gerke schrieb in seinem Ratgeber „The first 50 pages“, dass gestelzte Dialoge ein Grund sind, dass Verlagslektoren ein Manuskript zurückweisen. Was muss man sich unter gestelzten Dialogen vorstellen? Wie immer bieten bei Zuschussverlagen veröffentlichte Bücher reichhaltiges Anschauungsmaterial.
„Schreiben Sie realistische Dialoge!“ So oder ähnlich lautet fast jede Anweisung in Schreibratgebern. Doch was genau soll man sich unter unrealistischen Dialogen vorstellen? Eigentlich ist die Antwort einfach. Unrealistisch sind Dialoge dann, wenn Menschen niemals so miteinander sprechen würden. Das zu erkennen ist allerdings das entscheidende Problem. Wie trennt man die Spreu vom Weizen? Eine Möglichkeit besteht darin, in die Rolle der Romanfiguren einzutauchen. Würde man selbst ebenfalls so reden? Spiegeln Wortwahl und Verhalten den Charakter der Romanfigur?
Testen wir das an folgendem anonymen Auszug aus einem Zuschussverlag. Angeblich handelt es sich um einen Krimi, davon merkt man wenig. Die vorhandenen Rechtschreibfehler (z.B. sie statt Sie, ihre statt Ihre usw. stehen so ebenfalls im Originaltext. Da hat der Praktikant bei seinem „Lektorat“ wohl geschlampt 🙂 ).
In Klammern stehen meine Gedanken zu den Dialogen.
Die Umrisse des alten Bauernhauses konnte man im Novembernebel kaum erkennen. Der Fahrer fuhr langsam in die enge Kurve und parkte das Auto unter dem Kastanienbaum gegenüber der Holzscheune.
„Warten sie hier bitte“, sagte die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und stieg aus. Sie ging zur großen geschnitzten Haustür und klopfte den Löwenkopf-Eisenring auf die darunterliegende angerostete Stahlplatte. „Wohnt hier eine Frau Berger?“
(Hat der Chauffeur sich verfahren? Wohl kaum, denn er fand trotz Nebel ein altes Bauernhaus. Wieso muss die Beifahrerin dann fragen, wer dort wohnt? Es ist wohl eher anzunehmen, dass sie das weiß.)
„Ja, guten Tag, ich bin Frau Berger, kommen Sie herein.“
(Wow! Da steht eine Fremde vor der Tür und ich lasse sie herein, ohne zu fragen wer sie ist und was sie von mir will?)
„Guten Tag. Ulrike Müller. Sie wissen, warum ich hier bin?“
(Wozu die Frage? Wenn Frau Berger sie einfach so ins Haus lässt, wird sie den Grund des Besuches wohl kennen.)
Der gebrochene englische Akzent der Frau war nicht zu überhören.
„Ja.“
„Haben Sie mit ihrer Tochter gesprochen?“
„Ja.“
„Was hat sie gesagt?“
„Sie ist bereit.“
„Gut – unser Flug geht morgen früh. Wir müssen uns beeilen, bis Wien sind es noch gut vier Stunden. Ein kleiner Koffer reicht. Es wird ihr drüben alles zur Verfügung gestellt.“
(Zwischenfrage: Was wäre passiert, hätte die Tochter gesagt, dass sie nicht bereit ist? Wäre Frau Müller dann zum Auto zurückmarschiert? Ist es nicht unwichtig, was Katharina sagt, weil ohnehin alles arrangiert ist? Wenn es unwichtig ist, wieso fragt Frau Müller dann danach?)
„Möchten Sie einen Tee?“
„Gerne, danke.“
Mutter Berger ging in den ersten Stock. Ohne anzuklopfen betrat sie das Zimmer ihrer Tochter.
(Zwischenfrage: Wer serviert jetzt unten der Besucherin den Tee?)
„Katharina, sie ist da, der Flug geht morgen früh ab Wien. Du musst schon heute mit ihr fahren.“
(Unsinnige Wiederholung des Anliegens der Besucherin. Im nächsten Satz wird erklärt, dass Katharina bereits den Koffer gepackt hat. Also hat sie mit einem frühen Aufbruch gerechnet.)
Sie blickte traurig auf den bereitgestellten Koffer in der Ecke des kleinen Zimmers und wusste, was in Amerika auf ihre Tochter zukam.
(Was kommt denn auf sie zu? Anstrengende Wochen im Sprachkurs? Oder vielleicht das nervige Geschwätz von Tante Cathy? Stress als Austauschstudentin? Der Satz soll wohl Spannung vermitteln, aber die kommt nicht rüber. Es ist zu wenig Fleisch in der Story. Bisher gibt es nur eine überhöfliche Besucherin, die auch vom Shuttleservice zum Flughafen sein könnte.)
Katharina stand auf, nahm ihren Mantel, den gestrickten beigen Wollschal, den kleinen Koffer und ging die alte knorrige Stiege hinunter in die Küche.
(Interessanterweise wusste Katharina schon vorher, dass ein kleiner Koffer reicht, noch bevor Frau Müller das gesagt hat. Erspart einem das Umpacken z.B. von zwei Reisetaschen in einen Koffer oder von einem großen Koffer in einen kleinen Koffer.)
„Guten Abend, ich bin Ulrike Müller. Katharina?“
„Ja, ich bin Katharina Berger.“
(Wer sollte sonst die Treppe herunterkommen? King Kong? Superman? Der Dialog ist Unsinn, denn Frau Müller kann sehr wohl davon ausgehen, dass die von ihr gewünschte Person erscheint.)
Frau Müller musterte sie kurz aus den Augenwinkeln.
„Wir sollten uns beeilen.“
(Wenn keine Zeit ist, wieso hat Frau Müller dann vorhin gesagt, dass sie gerne einen Tee trinken würde? Okay, er wurde ohnehin nicht serviert.)
Innig umarmte sie ihre Mutter und stieg dann ins Auto. Der Mann mit Bart und hochgestelltem Kragen am Fahrersitz äußerte sich nur karg und fuhr los.
Das kurze, angeregte Gespräch der beiden wurde zusätzlich vom lauten Radio übertönt und Katharina verstand vom Rücksitz aus, eigentlich gar nichts. Sie sah aus dem Fenster und verfolgte die hohen Häuser mit ihren vielen Lichtern.
(Rein zufällig hat jemand neben dem alten Bauernhaus Hochhäuser gebaut, die man im Nebel gut erkennen kann. Irgendwie habe ich Probleme, mir die Kulisse vorzustellen.)
In diesem Moment fühlte sie sich sehr einsam, lehnte ihren Kopf an die kalte Fensterscheibe und spürte die Erschütterungen der schlechten Straße. Das Radio spielte den Country-Song „Free“ und Katharina versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
Ja, die Dialoge sind auch zum Heulen. Die Handlungen der Personen passen nicht zu dem, was sie sagen. Es ist ein typisches Beispiel für Dialoge, welche Romanfiguren vom Autor aufgezwungen werden. Die Figuren haben keine persönlichen Ziele, sondern machen nur das, was die Autorin für richtig hält.
Wie reagiert jemand, der von einer fremden Person an der Tür nach den Hausbewohnern gefragt wird? Sicher erst einmal mit Verwunderung, Misstrauen. Man würde nachhaken. Auch wenn man jemanden erwartet, vergewissert man sich, dass die richtige Person am Eingang steht.
Beide Dialogpartner reagieren überhöflich, wünschen sich gegenseitig einen guten Tag, stellen sich artig mit Namen vor usw. Das macht sie leider zu austauschbaren Pappfiguren. Ich kann aus den Dialogen nicht auf individuelle Charaktere schließen.
Es ist Unsinn, extra ein abgelegenes Bauernhaus im Nebel anzufahren, wenn die Aktion dort davon abhängig ist, dass man dafür auch bereit ist. Bevor jemand irgendwo hin fährt, ruft er vorher an und fragt, ob die Sache auch funktioniert.
Ebenso nimmt man das Angebot, etwas zu trinken, nicht erst an, wundert sich dann in keiner Weise darüber wo das versprochene Getränk bleibt bzw. geht ohne etwas zu trinken weg, weil man es sehr eilig hat. Wer es eilig hat, nimmt kein Angebot für einen Tee an, denn heiße Getränke kann man nicht schnell trinken.
Wenn ein Hausbewohner jemanden holen geht, kann man darauf vertrauen, dass die gewünschte Person gebracht wird und nicht irgendjemand anderes.
Geht es besser? Immer. Hier mein Vorschlag, den ich gerne der Leserkritik stelle. Mein Ziel war es, über die Dialoge die bedrohliche Stimmung einzufangen. Dadurch erübrigen sich amateurhafte, linkische Hinweise wie: „Sie blickte traurig … wusste was auf ihre Tochter zukam.“ Die Kulisse erwähne ich nur indirekt mit ein paar eingestreuten Hinweisen. Die Besucherin ist dominant, weshalb sie die Hauseigentümerin dauernd unterbricht. Das Hinnehmen dieser Unhöflichkeit zeigt den schüchternen, eher hilflosen Charakter von Frau Berger. Übrigens dachte ich mir einen Vornamen für sie aus, denn den hat jede Romanfigur verdient. Wieso der Name der Besucherin bei mir ungenannt bleibt? Zu diesem Zeitpunkt halte ich den Namen für unnötig. Momentan ist sie nur die Fremde, die Bedrohung. Dramaturgisch ist es darum besser, den Charakter von Sandra Berger auszuarbeiten. Würde die Handlung meines Beispiels weitergehen, müsste Katharina anschließend näher beleuchtet werden. Spannungen zwischen Katharina und ihrer Mutter, die Schwere der getroffenen Entscheidung, bergen Konfliktpotential. Ich würde deshalb ein Streitgespräch vor der Reise einbauen. Ein Name für die Besucherin stört deshalb eher, lenkt den Leser von den Hauptfiguren dieser Szene ab.
Die Kommentarfunktion ist offen. Ich stelle mich gerne der Diskussion.
Das Unglück kam pünktlich. Der silberne Mercedes schälte sich aus den Nebelschwaden, rollte im Hof aus. Hühner liefen gackernd davon. Sandra Gerber erkannte schemenhaft zwei Insassen. Die Beifahrerin stieg aus. Schwarzer Hosenanzug, weiße Bluse, Stöckelschuhe. Sie passte zum schlammigen Hof wie ein Müllfahrer zur Vorstandssitzung einer Bank.
Andererseits, so sah Geld aus. Sandra Berger blickte kurz auf den Kontoauszug, zerknüllte ihn in der Hand und trat vom Fenster zurück. Es war zu spät für einen Rückzieher. Die anderen hatten ihr Versprechen gehalten, nun musste sie den eigenen Teil erfüllen.
Eigentlich war es völlig harmlos, dachte sie. So ähnlich wie eine Vermietung. Man stellte etwas zur Verfügung und bekam dafür Geld. Das Dach erfüllte seinen Zweck schon lange nicht mehr, die Holztreppe zum ersten Stock knackste bei jedem Schritt. Irgendwann würde eine Stufe wegbrechen.
Die Fremde klopfte an der Tür. Es dröhnte wie Hammerschläge. Sandra stopfte den Auszug in die Rocktasche, schlurfte zum Hauseingang. Die Besucherin trug ihr Haar sehr kurz, die Ohrhänger glänzten golden. Der Duft nach teuren Parfüm drang in die Nase, vertrieb den Gestank des nahen Stalls.
„Kommen Sie doch herein. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“
„Die Zeit ist knapp.“
Sandra rieb unschlüssig die Hände aneinander. „Äh, ich kann gerne hochgehen und Katharina fragen …“
„Wieso steht sie nicht bereits hier? Weshalb die Verzögerung?“
„Nun, es ist eine weite Reise, das erste Mal weg von …“
„Die Zeit ist knapp.“
Erläuterungen mochten diese Leute wohl nicht.
„Sie ist ein gutes Mädchen, fein erzogen. Es wird doch alles gut, in Amerika?“
Das Schweigen der Fremden hing im Raum. Wie sollte man es interpretieren? Waren die Versprechungen etwa gelogen?
„Sie wird doch anrufen können, oder? Ich meine, als Mutter ist es nicht einfach, so ohne Nachricht …“
„Sagen Sie Katharina Bescheid.“
Sandra schluckte. „Man hat es mir versprochen! Das Geld nahm ich nur …“
„Gehen Sie jetzt, bevor ich gehe. Das wollen Sie doch nicht, oder?“
Ende des Textvorschlags.
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- Dialoge: aechan freedigitalphotos.net